Samstag, 22. August 2015

100 Meilen - Der Mauerweglauf Berlin Teil 5

Die 100 Meilen sind geschafft. Mit Finisher-Shirt in der Tasche und frisch geduscht geht es mit dem Auto zurück ins Hotel. Gegenüber in einer Seitenstraße gilt scheinbar sonntags kein Halteverbot, also parkt Henning unser Auto dort. Yvy und Henning bringen die Räder in die Tiefgarage, wir die Klamotten nach oben. Was für ein Gerödel, die drei Dropbags WP 1, WP 2 und Ziel sowie die Radtaschen. Der vom WP 3 würde gleich vor der Siegerehrung im Hotel abzuholen sein. Ein toller Service. Es ist acht Uhr, wir gehen dann mal zum Frühstück. Hier sind wir nicht allein, der Raum ist voll von Finisher-Shirts mit mehr oder weniger ausgemergeltem Inhalt. Ich hatte eigentlich ziemlichen Hunger, aber im Moment fühlt es sich nicht an, als würde ich etwas reinbekommen. Ich nehme nur einen Pott Kaffee und will mal abwarten, was mein Magen sagt. Mir ist nicht schlecht, aber meinem ganzen Körper ist irgendwie nach Ruhe. Nebenan am Tisch sitzen vier Frauen und freuen sich gerade über das Finish ihrer 4er Staffel. Wir freuen uns mit und erzählen gegenseitig von unseren Erlebnissen. Essen kriege ich trotzdem nicht herunter.

Gegen 9 Uhr sind wir im Zimmer und schlafen erst mal tief und fest, trotz des Tageslichtes im Zimmern. Ich denke an die vielen, die noch unterwegs sein werden und bin auch schnell im reich der Träume. Claudias Handy muss uns um ein Uhr wecken, denn um 14 Uhr findet unten im Saal des Hotels die große Siegerehrung statt.
Das Aufstehen gestaltet sich bei mir etwas schwierig, das Knie scheint die Ruhe nicht gemocht zu haben. Aber es ist nicht verfärbt oder geschwollen, das ist schon mal ein gutes Zeichen. Unten ist bereits alles für die große Siegerehrung aufgebaut. Eine Bühne und viele viele Stuhlreihen für Teilnehmer und Begleiter.

Hajo Palm begrüßt uns als Veranstalter und stellt die Gäste vor. Ein Vertreter des Sportsenats hält eine kurze Ansprache, von der nicht viel hängen bleibt. Dann kommt Rainer Eppelmann. Einst Pfarrer, einer der Köpfe der Opposition in der DDR und nach der Wende deren letzter Verteidigungsminister.
Als er spricht, ist es mucksmäuschenstill. Für mich hat der Mann eine unglaubliche Ausstrahlung, die mich bereits nach wenigen Sätzen erfasst. Er spricht von den Menschen, die sich nicht mehr alles vorschreiben lassen wollen. Die selbstbestimmt über ihr Leben entscheiden wollten und ihres dabei verloren.
Er stellt die Verbindung zu uns Läufern immer wieder gekonnt her, ohne dass ich das Gefühl habe, ständig den moralischen Zeigefinger zu sehen. Mit den Eindrücken der vielen orangefarbenen Stelen unterwegs braucht es das nicht. Aber er vermittelt mir auch die Freude. Die Freude, diesen Weg nun frei laufen zu können. Dies war kein normaler 100-Meilen-Lauf. Das hat hier gerade auch der letzte begriffen. Hoffentlich auch die, die achtlos an der Gedenkstätte von Marietta Jirkowsky vorbei gelaufen waren.
Dann werden die Sieger auf die Bühne gerufen. Auch Karin Gueffroy ist da, hängt Medaillen um. Sie ist die Mutter von Chris Gueffroy, der noch im Februar 1989 erschossen wurde. Er wäre heute so alt wie ich. Dann werden die Frauen von hinten nach vorne auf die Bühne gerufen. Zeit spielt hier keine Rolle. Das Finish allein ist aller Ehren wert. Claudia ist an der Reihe. Ich freue mich, dass sie es so gut überstanden hat und vor allem, dass sie nicht wirklich enttäuscht über den verpassten „Buckle“ ist. Braucht sie mit Platz 13 bei den Frauen auch nicht. Als vom Klatschen schon die Hände wehtun, bin ich dann irgendwann an der Reihe. Der Gang zur Bühne klappt schon wieder tadellos. Ich komme ohne fremde Hilfe die drei Stufen hinauf. Händeschütteln mit Hajo, dann Frau Gueffroy. Ich bedanke mich für die Medaille und sage ihr, dass ich am Abzweig Britzer Seitenkanal an ihren Sohn gedacht habe und höchsten Respekt vor ihrem Wirken habe. Dann Erhalte ich von Rainer Eppelmann mein „Buckle“. Mensch, war ich stolz auf das Ding! Aber diese Siegerehrung ist auch so toll inszeniert, dass nicht einmal die endlosschleife von Pink Floyds „Another brick in the wall“ zu nerven vermag. Das hier gehört sicherlich mit zu den größten Momenten in unserem bisherigen Läuferleben. Es ist einzigartig.



Wir sind der Auffassung, das sollte es auch bleiben. Die Back-to-back Medaille durch eine Bewältigung der Strecke in der, in meinen Augen viel schwierigeren, umgekehrten Richtung kann ich mir im Moment nicht vorstellen. Sehr gut kann ich mir aber die TorTour de Ruhr im nächsten Mai vorstellen. Dafür habe ich hier wieder viel gelernt. Und Yvy ist auch so angetan, dass wir das selbstverständliche Versprechen abgeben müssen, für sie und Henning auch den Radbegleiter zu geben. Das ist Ehrensache!
Anschließend sitzen wir noch mit einigen Läufern im Biergarten vor den Hotels. Und gehen dann Richtung Hackesche Höfe zu einem Italiener. Wieder kann ich nur die Hälfte essen, aber immerhin. Mein Körper braucht etwas Zeit, um wieder auf Normalbetrieb zu wechseln. Aber ich kann gehen. Im Hotel schlafen wir schon um halb neun ein. Was solls?


Unseren allerherzlichsten Dank an alle, die uns diese Leistung ermöglicht haben. An erster Stelle natürlich Yvy und Henning mit ihrer „Fahrradtour“, dann die vielen Helferinnen und Helfer rund um diesen Lauf, die sich wirklich vorbildlich in mörderischer Hitze und umschwärmt von Wespen um uns gekümmert und uns alle Wünsche von den müden Augen abgelesen haben. Auch an all unsere Freunde, die auf Facebook und im Internet mitgefiebert haben. Das hat mich unterwegs sehr motiviert. Danke auch an alle, die danach unsere Selbsbeweihräucherung und unser Läuferlatain tapfer ertragen mussten.

In dem Bewusstsein, fast alles bewältigen zu können, wenn unsere Körper weiter so tadellos mitspielen ging es am Montag wieder nach Hause. Über die „Interzonenautobahn“ bis Helmstedt/Marienborn. Auch hier war früher die Grenze. Eine Gedenkstätte zeugt noch davon. Die meisten rasen durch…..


Donnerstag, 20. August 2015

100 Meilen - Der Mauerweglauf Berlin Teil 4

Ich laufe wieder an, sobald ich die Straße, die zurück zur Brücke über den Teltowkanal führt, nach 50 Metern erreicht habe. Die „Schlafanzüge“, wie einige die Nachtausrüstung mit Stirnlampe und Signalweste nennen, ruht noch bei Henning in den Satteltaschen.
Vor uns scheint sich ein Läufer nur so dahin zu schleppen, auch er schlurft mit jedem Schritt. Wir gehen an ihm vorbei, er hängt sich aber dran und das schlurfen haben wir noch eine ganze Zeit im Ohr. Die Strecke führt am Teltowkanal entlang, allerdings nun am Südufer. Immer wieder noch Steelen mit den schwarz-weiß Bildern der größtenteils jungen Menschen, die hier ihr Leben riskiert und verloren haben. Henning hält ab und zu an, liest deren Geschichte und kommt dann hinterher geradelt. Allerdings ist vom Ufer wenig zu sehen, da es dicht bewachsen ist. Rechts sind immer noch Betonpfähle zu sehen, teilweise abgebrochen. Grenzzaun. Der Teltowkanal bildet hier noch etwa 4 Kilometer die Grenze zwischen Teltow und Berlin-Zehlendorf. Als wir ihn dann mit einer 90 Grad Rechtskurve verlassen, beginnt der Zick-Zack-Kurs im Südosten West-Berlins. Alles klar? Die abgeknickte Straße führt durch eine Wohnsiedlung. Auch hier ein Bild, wie schon so oft. Rechts auf der teltower Seite Altbauten, links auf der Zehlendorfer Seite Neubauten der 90er hier im beginnenden Speckgürtel der Hauptstadt. Schnell geht die Siedlung in freies Land über, eine Kirschblütenallee beginnt. Uns kommen viele Spaziergänger mit und ohne Hunde entgegen, zwischen Kirschbäumen – ein Geschenk Japans zur Wiedervereinigung und entlang der Grenze damals angepflanzt – läuft der Betonplattenweg. Der Blick in der untergehenden Sonne schweift über weite Felder. Wann kommt der nächste VP? Ich bin im Moment schon ein wenig erschrocken, wie schlecht es hier gefühlt vorwärts geht. In Biel hatte ich zwei Jahre zuvor die 100 km in 10:11 h absolviert, nun hatte ich dafür über 12:30 h gebraucht und fühle mich bereits viel müder. Aber da muss ich mich selbst einbremsen. Biel startete zwar an schwülem Abend, in der Nacht wurde es jedoch relativ kühl und warm wurde es erst in den letzten 2 Stunden. Der Tag bei heißen und schwülen Temperaturen über 30 Grad hat doch mehr Körner gekostet, als mir noch vor ein paar Stunden selbst klar war. Das Feld ist hier riesig auseinandergezogen, fast jeder läuft hier für sich allein. Ohne Hennings Unterhaltung würde es schwierig werden. Rechtsknick, immer noch ist der VP der Polizei nicht in Sicht. Da wären es dann 109 km, meine Uhr zeigt schon 111! „Wenn wir bei 161 nach meiner Uhr sind, müssen wir immer noch 3!“ erwähne ich mal so am Rande. Dennoch hangele ich mich an den Anzeigen meiner Uhr entlang. Bald ist es nur noch ein Marathon, das soll das nächste Etappenziel sein. Beim VP des Polizeisportvereins angekommen wird es langsam dämmerig, wir legen unsere Nachtausrüstung dann doch mal an. Ich hatte keine Lust gehabt, mir noch etwas zu kaufen, also habe ich mein enges schwarzes Powerstripe-Shirt an und ziehe das Ding aus dem Auto drüber. Das sollte mir am Ende eine unschöne Scheuerstelle am Schlüsselbein einbringen, aber Geiz ist ja bekanntlich geil. Es geht weiter. Rechts liegen Maisfelder mit gefühlten Kantenlängen von 3 Kilometern. So etwas Riesiges gibt es nur im Osten, wir am Niederrhein haben da erheblich kleine Felder. Relikte von Bodenreform, Enteignung und Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften. Dann beginnt der Wald und es wird fast schlagartig dunkel. Stirnlampe an, Fahrradlampe an. Weiter geht es. Ich laufe immer noch. Henning rechnet aus, dass wir nach 22 Stunden da wären, aber ich bremse immer noch den Optimismus. Es kann viel passieren auf fast 50 Kilometern, vor allem werde ich immer langsamer. Henning streitet das ab und betont immer wieder, wie sauber mein Laufsstil noch aussieht. Wir unterqueren die B101 bei Marienfelde, hier lag das Erstaufnahmelager für diejenigen, denen keine Stele an der Strecke gewidmet werden musste. Es waren einige Millionen, die hier aufgenommen und zu „Wessis“ transformiert wuden. Wann kommt der nächste VP? Ist da vorne Licht? Nein, das Licht will nicht näher kommen. Es ist ein Läufer mit seiner Stirnlampe. Ich denke an allein laufende Frauen in diesem schwarzen Nichts, das hätte vielleicht in die Ausschreibung gehört. Yvy und Claudia war gemeinsam schon nicht wohl. „Wenn ich hier umkippe und rechts in Gebüsch rolle, finden Sie mich erst in 12 Stunden“ sage ich zu Henning. Unwillkürlich schauen wir, ob da nnicht wirklich einer liegt. Der Weg wird schlechter, der Asphalt ist weg, Sandfahrspuren mit Wurzeln bilden nun das Geläuf. Dann kommen wieder recht ordentliche Waldwege, die die Hoffnung schüren, das schlimmste sein vorbei. Diese schlechten Wege kosten zusätzlich Tempo, das ist eigentlich das Hauptproblem. Wann kommt endlich dieser nächste Verpflegungspunkt? Es sollten doch nur 5,5 Kilometer sein! Man motiviert sich damit, sich an einem VP mal 3 Minuten hinsetzen zu dürfen und einen Bissen zu essen. Danach geht es aber wieder von vorne los. Aber diese kleinen Aussichten und Abschnitte helfen ungemein weiter. Man darf jetzt nicht denken „immmer noch 46 Kilometer“! Die Strategie muss sein, sich von kleinen Zielen wie dem nächsten VP oder bestimmten Kilometerzahlen heranzutasten. Der Weg gabelt sich, ist aber durch die fluoriszierenden Pfeile am Boden bestens ausgeschildert. Dann sehen wir das Licht des VP. Die haben hier so ein Ding tatsächlich im finstersten Busch aufgebaut. Die Freude ist zunächst groß, dann aber sehe ich keine Sitzgelegenheiten. Der kluge Läufer hätte jetzt stehend etwas gegessen und getrunken und wäre schnell weiter. Zu der Spezies gehöre ich in diesem Moment aber wohl nicht mehr. Es ist kurz vor elf, ich bin seit halb vier am Morgen auf uns spätestens seit 6 Uhr laufend unterwegs. Da leidet die Kleinhirndurchblutung offensichtlich, denn ich setze mich auf die angebotenen Sixpacks Wasserflaschen. Das ist einmal unbequem und dann auch noch zu tief. Meine Knie sind zu lange zu sehr durchgebeugt. Aber es geht wieder weiter in die Dunkelheit. „Wie lange dauert dieser Scheiß-Wald noch?“ frage ich noch verzweifelt die VP-Besatzung. „15 Kilometer!“ Vor dieser Antwort nehme ich dann mal reißaus.
Weiter geht es um Schöneberg herum. Wir reden darüber, wie sich wohl Yvy und Claudia in diesem dunklen Loch fühlen werden. Wo sie sind? Keine Ahnung, denn Yvys Handy scheint leer zu sein, wie Henning meint. Claudia hat ein mobiles Ladegerät dabei, genau wie ich, aber daran denkt man irgendwann nicht mehr. Es kommt der gefürchtete umweg wegen eines fehlenden Tunnels unter der Bahnanlage. Man schrieb hier von „schlechtem Kopfsteinpflaster“ und das ist es wirklich. Die Straße ist mit den berüchtigten großen „Placken“ bestückt, den schmalen Gehweg durch die 30er-Jahre Siedlung befestigt kleines Kopfsteinpflaster. Das kann man ja noch relativ gut laufen, nur sind darin überall Asphaltbuckel, wenn da mal ein Loch verschlossen wurde oder die Wurzeln der zahlreichen Bäume haben das Zeugs hochgedrückt und in einladende Stolperfallen verwandelt. Dazu die dämmrige Straßenbeleuchtung und die Schlagschatten der belaubten Bäume, aber immerhin Häuser, Straßen und Abwechslung. Was freue ich mich auf die City! Wir erreichen den Bahnübergang, der auch noch gesperrt ist. Ein sitzender Streckenposten warnt uns vor den frei liegenden Schienen. Wie lange noch Wald? „Locker 10 Kilometer!“ Sagt der Streckenposten und ich befürchte, gleich wahnsinnig zu werden. Dieses westliche Ostalgieviertel ist also nur ein Intermezzo. Irgendwann liegt der Ortsrand wieder vor uns und es geht wieder in den Busch. Duster wie im Sack wird es wieder. . Marathon, so ein Klacks. Der VP 20 ist erreicht. Hier stehen Liegestühle, Henning ist so nettt zu mir und bringt mir ein schälchen lauwarme Nudeln. Die tun ganz gut. Auf die angeboetene Bolognese verzichte ich dankend. Wieder weiter, wir  überquerend die B96, hatten wir heute Morgen kurz vor der Gedenksteele Jirkowsky schon einmal. Nur am anderen Ende von Berlin. Jetzt ist Ende mit Weg, es folgen zwei sandige Fahrspuren, die sich ca. 20 cm. In die Grasnarbe eingefräst haben. Teilweise so schmal, dass man die Füße nicht richtig aneinander vorbei bekommt. Henning auf dem Rad flucht auch. Ein Mann mit Hund  kommt uns entgegen. „Wird das hier bald besser?“ frage ich. „Neh“ ist die einsilbige Antwort. Das motiviert richtig. Es ist Mitternacht und wir kämpfen uns Schritt für Schritt über die Wurzeln und Sandlöcher. Mein rechtes Knie beginnt leicht zu schmerzen. Läuft sich raus, es muss sich rauslaufen! Es ist aber kein stechender, abrupter Schmerz sondern eher ein dumpfer an der Innenseite rechts. Egal, noch geht es ja. Der Wald lichtet sich und endlich wird der Weg besser. Aber nur ganz selten gelingt noch ein Kilometer unter 8 Minuten. Wir sehen die Wohnsilos der Gropiusstadt, wieder das typische Beispiel von Moderner Trabantenstadt der 60er Jahre und sozialem Brennpunkt der 70er und 80er. Christiane F. wohnte hier. Henning und ich unterhalten uns über den Film, wir fanden ihn beide damals ziemlich schockierend. „We could be heroes – just for one day“ sang David Bowie dazu und auf dem Wege dahin sind wir auch. Ich bin überzeugt, dass das Zeug, was mein Körper gerade produziert, sich auch gut in die Venen spritzen lassen würde. Denn auch ich fühle mich etwas surreal. Links Wald, rechts Felder und am anderen Ende wummern die Bässe und drehen sich die Lichter einer Kirmes, auf die wir zu laufen. Jetzt eine Runde Kettenkarussell. Und Kandierte Apfel mit Zuckerwatte am VP. So scherzen wir uns dahin und ich bewundere meinen Geist, der tatsächlich noch Humor hat. Dann ist die Kirmes umlaufen, die Gestalten in meist jugendlichem Alter, die uns hier entgegen kommen, sind alle lattenstramm. Wie mögen wir warmwestengewandete Stirnlampenträger in mehr oder weniger vorzeigbarem Laufschritt auf sie wirken? Endlich ist Groß-Ziethen erreicht, das bereits an Neukölln grenzt. Ein Stück durch eine Wohnsiedlung, dann nochmals der Schrecken der Sandwege. Aber diesmal wirklich nur für 200 Meter, dann wieder eine Wohnstraße, an deren Ende der VP auftaucht. Die Leute hier machen wirklich Party, auf den Straßen ist dank der Kirmes noch etwas los. Wieder nur kurz verweilen, weitermachen. So langsam beginne ich u glauben, dass ich das hier tatsächlich ohne Gehpause durchlaufen kann. Und gleich geht es Richtung Rudow endgültig in die Stadt. Noch knapp 35 Kilometer. Nochmal kurz um die Blöcke der Gropiusstadt herum durch einen dunklen Weg, dann sind wir auf der Großen Ziethener Chaussee Richtung Rudow. Ich laufe auf Radweg oder Bürgersteig, Henning fährt neben mir. Ist auch ziemlich ausgestorben hier so gegen ein Uhr nachts, aber es gibt etwas zu gucken. Ab und zu kommen Taxis, die Nachtschwärmer nach Hause fahren. Wem es am Mittag besser geht – warten wir ab. Mein Knie muckt ab und an, aber es schein sich nicht zu verschlimmern. Gegenüber stehen zwei Polizeiautos und unterhalten sich durch die offenen Fenster. Eines fährt weiter dreht wenig später am Verpflegungsstand, den wir schon erreicht haben. Hier geht es psychologisch wirklich schneller als im Tunnel des Waldes. Hier sitzen wieder Läufer. Ob die jetzt zu Staffeln oder Einzelstartern gehören ist mir egal.Ein Polizist steigt aus und spricht mit den Leuten am Verpflegungsstand. Henning bringt mir Getränke und Apfel und erzählt, dass der Polizist gefragt habe, warum hier so viele vorschriftsmäßig beleuchtete Fahrräder kämen, deren Lenker auch noch Warnwesten trügen! Hatte der wohl noch nie gesehen, sonst fahren hier nämlich die meisten ohne Licht. Mit diesem Humor im Rücken geht es weiter, schon bald erreichen wir wieder den Teltowkanal. Ich laufe noch immer, obwohl ich langsam wirklich keine Lust mehr habe. Auf meiner Uhr 135 Kilometer, offiziell wohl 2-3 weniger. Der Weg führt hier schnurgerade etwa 5 Kilometer am Kanal entlang. Leider sehen wir nicht viel, denn zwischen dem Gewässer und uns sind Büsche, auf der anderen Seite der Lärmschutz der A 113, die man hier auf der Mauertrasse gebaut hat und die zum niemals fertigen BER-Airport und nach Schönefeld führt. Eine Gedultsprobe. Irgendwo weit vorne leuchten die Lichter einer Ampel, sehr viel später stellt sich heraus dass die oben an der Brücke über den Kanal leuchteten, wir aber im Dunkeln drunter her laufen. Man wird wieder verschluckt von dieser tiefen Schwärze, nur durch den kleinen Tunnel unsrer Lampen durchbrochen. Weit vor und hinter uns ist niemand zu sehen. „Die seit dem letzten Wechselpunkt haben wir alle abgehängt“ freut sich Henning mit mir. Hinter einer Brücke liegt jemand rechts an der Wand des Pfeilers im Gras. Ein Läufer. Wir schauen und leuchten ihn damit an „Alles in Ordnung?““Boah, ich will nur schlafen“. Na denn, weiter. Mit dem Schlaf wird er wenig Glück haben, denn so ziemlich jeder Läufer wird ihn besorgt fragen, ob man helfen kann. Und das ist auch richtig so. Der VP 23 taucht auf, wunderschön mit Gartenfackeln illuminiert.
Wir wollen gerade die Rot-Kreuz-Helfer per Bike zu dem Schläfer schicken, da taucht er schon auf. Er konnte nicht einschlafen. Aber aus meiner Erfahrung vom Seilersee und Glörsee weiß ich, dass das auch schon sehr gut tut. Henning muss die Batterien der Radlampe wechseln, 4,5 Stunden Dauerbetrieb, das wars. Das ist schwierig, er muss schrauben. Also laufe ich schon mal alleine los, denn ich will nicht einrosten. Jetzt bin ich wirklich ganz allein in der Schwärze der Nacht. Was tue ich hier? Ich bringe etwas ordentlich zu Ende, von dem ich seit langer Zeit gesprochen hatte. Bald muss der Britzer Seitenkanal kommen, wo sie noch im Februar 1989 Chris Gueffroy als letzten erschossen haben. Der ist fast mein Jahrgang. Seine Mutter soll bei der Siegerehrung anwesend sein. Was ist so etwas gegen die paar Meter laufen, die ich hier vor mir habe? Henning ist wieder da und erneut von meiner Konsequenz beeindruckt. Er käme sehr schlecht am VP wieder hoch, sagt er. Bei mir ist es der Blick auf die Uhr und die gnadenlose innere Stimme, die mich nach vorne treibt. Das Tempo bestimmen die Füße und Beine, die lassen sich jetzt nichts mehr vorschreiben. Aber ob sich bewegt wird oder nicht, das bestimmt immer noch der da oben hinter der Stirnlampe. Darüber bin ich ziemlich glücklich in diesem Moment. Dann dehnt sich das Gewässer aus und der Seitenkanal zweigt ab. Endlich sind 5 Kilometer Schwärze zu Ende. Wie oft haben wir das schon gedacht seit wir Claudia und Yvy an der Turnhalle verlassen hatten? Es geht über den Kanal, da ist eine Treppe hoch zu einer Brücke. Die Stufen gehe ich natürlich. Es ist jetzt ungefähr noch ein Halbmarathon. Hey, eben war es noch ein ganzer und nun ein halber. Ein Läufer und seine Radbegleiterin sind vor uns, er muss gehen, hat irgendein Problem. Ich hatte es schnell wieder vergessen. Dann erwischt es mich aber auch. Der Schmerz im Knie wird beim Anlaufen stärker. Ich gehe kurz, der Schmerz ist weg. Wieder Laufen, der Schmerz ist wieder da. Da fälle ich eine Entscheidung. Ich will mir hier nichts kaputt machen, definitiv. Ich habe 4 Stunden und 40 Minuten Zeit, es folgen noch 4 VP. Mache ich an jedem 5 Minuten Pausen bleiben 4 Stunden 20 Minuten für 21 Kilometer. Das sollte entspannt gehen. Warum also sich ein Problem einlaufen? Ich ärgere mich schon, denn ich bin überzeugt, dass ich hätte durchlaufen können, wenn das Knie nicht gemuckt hätte. Die Kraft fehlt nicht, die mentale Stärke sowieso nicht. Zwischen Treptow und Neukölln marschiere ich also entlang des Kolonnenweges, der Zustand hier ist giut, erführt aber immer in finsterer Nacht zwischen den beleuchteten Straßen her. An den Hausfassaden kann man teilweise erkennen, wo Ost und wo West war. Im Westen war das hier auch nicht die feinste Gegend. Hinter einer Wohnblocksiedlung, einen VP hatten wir noch hinter uns gelassen, dann wieder Wasser mit überfüllten Biergärten. Der Neuköllner Verbindungskanal. Wir müssen aufpassen, nicht über abgestellte Räder zu fallen. Auf Parkbänken liegen Nachtschwärmer sternhagelvoll und schlafen. Wird lustig für die Mädels, flachsen wir. Aber wirklich Angst haben wir nicht, die Stimmung der Leute ist nicht aggressiv. Dann ein Park, eine Brücke und wir erreichen die Schlesische Straße, die uns zur Oberbaumbrücke führen wird. Hier ist alles voll. Warten auf Taxis, nachtanken an der Tanke. Volle Tische auf den Gehsteigen der Kneipen und wir wuseln uns durch. Übelriechende Männlein mit Stirnlampe und wahrscheinlich weniger  intelligentem Ausdruck im Gesicht. An der Roten Fußgängerampel stehen wir im Pulk. „Watt machen die denn hier?“ „Da hab ick ooch schon en Paar von jesehen!“ wird getuschelt. Aber egal, hier macht es nichts, dass ich marschiere. Laufen geht eh nicht. Auch nicht auf der Oberbaumbrücke, unter deren neugotischem Kreuzgang wir uns vom Partyvolk über die Spree durchreichen lassen. Ein Nachwuchs-DJ übt an einem Keyboard, irgendwelche Typen bieten irgendwelches Zeugs an. Das hilft mir jetzt auch nicht mehr. Wir sind durch und gehen die Eastside-Gallery entlang. Dahinter durchbrüche, Gastro-Boote. Alles ist voll, denn es ist sommerlich warm hier zwischen zwei und drei in der Nacht. Ich überlege bereits, ob ich mich am nächsten VP setzen soll, denn die ersten Schritte danach schmerzte mein Gelenk dann immer. Ich setze mich dennoch, als wir da sind. Ich bedanke mich zunächst immer bei allen Helfern, dass sie sich für ein paar Verrückte die Nacht um die Ohren schlagen. Das gehört sich so und ich hoffe, ich habe es nirgendwo vergessen. Dann geht es hier, zwischen Kunstbedeckten Mauerfragmenten und lärmendem Taxiverkehr hinter und schnell wieder weiter. Mein Marschtempo liegt so bei 9:30 Minuten pro Kilometer, mal 15 Sekunden mehr, wenn mehr Straßen überquert werden müssen, in der Spitze aber auch mal 12 Sekunden weniger. Damit verliere ich zu meinem zuletzt gelaufenen Tempo nur noch 45 Sekunden, das ist nicht viel bei 20 oder 21 Kilometern Marsch statt Lauf. Vielleicht eine viertel Stunde auf die Zielzeit, das ist es nicht Wert, sich in die Reizung weiter hinein zu zwingen. Wir haben es fast geschafft, schlappe 11 Kilometer noch. Zunchst bin ich heilfroh, als es durch Kreuzberg am Luisenstädtischen Kanal entlang geht. Der wurde in den 20er Jahren zugeschüttet und in einen Park verwandelt, ich war der festen Überzeugung, wir müssten wieder in so ein schwarzes Loch. Aber wir dürfen an den Straßen bleiben. Ein farbiger kommt uns singend auf dem Rad entgegen. Gegen die Einbahnstraße, mitten drauf, mit schwarzem unbeleuchtetem Rad und schwarz angezogen. Das meinte die Polizei vorhin. Aber er sang ja, was dann ein Argument wäre, mit offenem Fenster und ohne Radio Auto zu fahren. In einem Hauseingang verabschieden sich 4 oder 5 Jugendliche. „Eh, schon wieder so’n Läufer!“ „Wie biste schon jeloofen?“Ich antworte  „So 154 Kilometer“ „Boah! Krasser Scheiß eh!“ Treffender als diese junge Dame hätte es keine ausdrücken können. Werde den Spruch zum Event-Shirt 2016 vorschlagen. Aber sie hat ja nicht unrecht. Was ich hier jetzt schon geleistet habe, ist schon einiges. Und da darf ich auch stolz drauf sein, denn ich habe es sorgfältig vorbereitet, physisch wie psychisch. Und ich hatte auf jede Situation die passende Antwort. Einige Ecken weiter, in denen Henning und ich uns vorzustellen versuchen, wie man hier mitten in der Stadt in einer Nacht wie dieser eine Grenze errichten will, sind wir am Checkpoint Charlie und den netten Chinesen am vorletzten VP.

Kaffe am Checkpoint


Es gibt Kaffee, den nehme ich gerne und erzähle, wie ich hier 1986 noch die Frau gesehen habe, die tagaus tagein in einem Käfig vor dem Grenzübergang stand und
1986 am Checkpoint Charlie
Staatsratsvorsitzenden Honecker bat, Ihre zwangsadoptierten Kinder herauszugeben. Auch denke ich daran, dass hier im Oktober 1961 fast der dritte Weltkrieg ausgebrochen wäre, als sich die Panzer der USA und der Sowjetunion schussbereit gegenüber standen. Ein 25-jähriger Soldat verliert die Nerven und wir säßen jetzt nicht hier und trinken Kaffee. Weiter geht es, in der Wilhelmstraße fällt mir am Finanzministerium, dem ehemaligen Reichsluftfahrtministeriums der Film „Des Teufels General ein“, der auf der unglücklichen Rolle des Fliegerasses Ernst Udet in diesem Gebäude basiert. Udet hatte sich erschossen. Carl Zuckmeyer hat dies 1946 in seinem Theaterstück verarbeitet, welches dann mit Curd Jürgens verfilmt wurde. Was mir hier noch alles einfällt! Henning findet es es spannend, zumindest tut er noch so. Hier ist es genau wie ich es erwartet hatte. Die Kilometer fliegen dahin, denn hier ist überall etwas zu sehen. Das Brandenburger Tor am Pariser Platz.
Zwei Mal hatte ich es beim Berlin Marathon schon durchlaufen. „Gleich an der Ecke mal sehen, wie weit es noch ist. Vielleicht laufe ich dann eben durch.“ Sage ich noch und bin an der Ecke. Es ist mir zu weit. Meinem Knie will ich keinen unnötigen Schritt mehr zumuten. Ein Foto, dann weiter Richtung britischer Botschaft. Wir ernten bewundernde Blicke von den hier reichlich patroullierenden Polizisten, dann geht es die Scheidemannstraße zum Reichstag. Anke kommt in Begleitung vorbeigelaufen, die hatte ich bei Kilometer 45 oder so überholt. Aber Anke ist eine sehr gute Ultra-Läuferin, sie hätte mich gerne mitgenommen, aber ich sage, dass ich  nur noch gehen kann und wünsche alles Gute. Reichstag, Kanzleramt, Kronprinzenbrücke. Das Regierungsviertel ist menschenleer. Dann Richtung Bahnhof, Anke und Begleiter sind noch in Sicht, bevor es am Humboldhafen entlang über den Invalidenfriedhof zum letzten VP geht. Eine tolle Sache, erschöpfte Läufer am Rande des Zusammenbruchs über einen Friedhof laufen zu lassen. So kaputt bin ich Gott sei Dank nicht. Am VP erwartet uns eine nette Dame vor dem Tresen, ich frage wie weit es noch genau ist. 4,75 Kilometer sind es laut Tafel am VP. Noch 48 Minuten, dann stünde noch die 22 bei den Stunden. Das wird mir zu eng. Um eine 9er Pace zu erreichen müsste ich laufen. Mein Knie ist noch stabil, am Ende ist es egal ob wir 22:59 oder 23:10 hereinkommen. Für die blöde Gürtelschnalle kann ich auf allen vieren in dieser Zeit ankommen. Also kann ich auch meine 4 Minuten Pause machen und die Dame unterhalten. Tun wir dann auch. Mit einem netten Dankeschön geht es auf die letzte Etappe. Würde ich bei der TorTour de Ruhr jetzt noch 75 weitere Kilometer schaffen? Ja. Mit einer Stunde Schlafpause dann würde es gehen, ich hätte locker 13 Stunden dafür Zeit. Man hat das eine nicht ganz geschafft und denkt schon an den nächsten Wahnsinn. Aber so ist halt der Plan. Zwei Läufer überholen uns noch im Endspurt kurz vor der Bernauer Straße. Das sieht aus wie 4:30er Pace. Wahrscheinlich war es eher 7er Pace, aber bei meinem Marschtempo kann man sich vertun. Es tut ein wenig weh, nicht mitlaufen zu können, aber die Vernunft siegt. Dann liegt endlich die Bernauer Straße vor uns, höchstens 2,5 Kilometer noch einschließlich Sportplatzrunde. Es wird noch nicht hell, obwohl es auf 5 Uhr zu geht. Ein Läufer kommt von vorne langsam näher, dann setzt er sich auf eine Fensterbank eines Ladenlokals. „Können wir helfen?“ Er fragt nach Cola, wir geben ihm unsere eiserne Reserve, eine 0,33 l Flasche aus den Gepäcktaschen. Die brauchen wir nicht mehr. Jetzt plane ich schon den Einlauf. Henning soll am Eingang des Stadiongeländes schon mal vor fahren und auspacken. So machen wir es dann auch, als unvermittelt die dreibeinigen „Giraffen“, die Flutlichtmasten des einstigen Dynamo Berlin-Stadions auftauchten. Beim DDR-Abo-Meister von Stasi-Mielkes Gnaden haben sie alle gespielt: Barcelona, Juventus, der HSV, Werder Bremen. Die verloren hier sogar mal 3:0, drehten dann aber das Rückspiel mit 5:0 in Bremen. Ich bin an Hennings rad am Eingang zum kleinen Leichtatlethikstadion angekommen. Signalweste aus, Singlet wieder drüber, die blaue „DDR“-Trainingsjacke an. So laufe ich ein. In der letzten Kurve dann reise ich die Retro-Jacke auf, ziehe sie aus und das goldene DLV-Singlet mit der Aufschrift „Deutschland“ kommt zum Vorschein.
Die letzten Meter


Finisher!
Eine Symbolik, wo das neue Deutschland unter der verstaubten DDR zum Vorschein kommt. Ich hoffe, das versteht keiner falsch. Wenn doch, kann er es ja hier nachlesen. Euphorisch schwenke ich die Jacke über meinem Kopf, zum Schreien bin ich zu platt. Hier bin ich nochmal getrabt, wenn auch unter Schmerzen. Es ist vollbracht! Hundert Meilen und ein paar Meter sicherlich mehr sind gelaufen. 23 Stunden und 9 Minuten steht auf dem Kassenbon mit allen Zwischenzeiten, den ich in die Hand gedrückt bekomme. Auch das Finisher-Shirt erhalte ich hier. Zunächst bedanke ich mich bei Henning. Ich will nicht sagen, dass ich es ohne ihn nicht geschafft hätte, aber es wäre brutal schwerer geworden! Er holt und zwei Erdinger Alkoholfrei, die wir auf der Bierzeltbank trinken. Bier vor dem Frühstück, sonst nicht so meine Art. Dann die bange Frage nach Claudia und Yvy. Es ist bei mir nun auch später geworden, würde sie die 24 Stunden schaffen? Irgendjemand schreibt Henning, sie seien um 4:40 Uhr am Checkpoint Charlie gewesen. Dann wäre das zu schaffen! Es wird nun schnell hell, es kommen immer wieder uns bekannte Läufer herein. Auch welche, die wir vor uns wähnten. Dann sagt der Moderator an, es wären noch zwei Minuten bis Sechs Uhr, da noch niemand auf dem Stadiongelände sei, könne er die Kiste mit den Buckles schließen. Wir sehen Claudia nicht, also wird das nix mehr. Etwas traurig bin ich darüber schon, jetzt hoffe ich nur, dass sie weit genug weg ist und nicht in drei Minuten hier erscheinen möge. Denn das wäre dann wirklich ärgerlich!

Sie kommen wenig später, gegen 6:20 Uhr. Ich nehme sie am Eingang zur Tartanbahn in Empfang. Claudia geht, auf der Bahn aber läuft sie wieder. Sie wird schneller, gibt wieder richtig Gas wie das ihre Art ist und erreicht in 24:22 h das Ziel! Ich bin stolz auf meine Frau, denn auch sie hat sich mit viel marschieren aufgrund von Magenproblemen durchgebissen. Und das in einer sehr ordentlichen Zeit. Sie war ohnehin nicht so auf den Buckle fixiert wie ich und sie ist nicht sichtbar enttäuscht!
Claudia im Zielspurt
Was für ein Ding! Wir haben es tatsächlich gerockt, sogar weitgehend nach Plan. Mein Magen bekommt nichts rein, das angebotene Frühstück will ich später lieber im Hotel versuchen. Wolfgang sehe ich beim Duschen nochmal, sieht fies aus, der alte Wegbegleiter. Aber ich kann mich alleine aus- und anziehen. Auch ein Erfolg. Andere haben da mehr Probleme. Lars, der Däne von der Glienicker Brücke duscht auch gerade mit. Er hat das Buckle noch erreicht, war eine halbe Stunde nach uns drin.  Aber der ist in wenigen Tagen vergessen. Meine Füße sehen fast tadellos aus, eine leichte Blase unter der Hornhaut am vorderen Ballen, sonst nix.
Was war das jetzt für ein Gefühl? Das kann man in der Müdigkeit so schnell jetzt nicht fassen, was man da geleistet hat. Es waren in jedem Falle unvergessliche Eindrücke, geschichtsträchtige Orte und Augenblicke und bewegende sportliche und menschliche Gesten und Regungen bei Helfern und Mitläufern. Habe ich mich selbst besser kennengelernt? Nein, ich war so, wie ich es erwartet hatte. Es lief ähnlich, wie ich es erwartet hatte. Und ich sehe  nichts, was ich hätte besser machen können. Kann es eine schönere Bestätigung geben?
Und auch meiner Claudia hatte ich dies zugetraut. Dass es nicht noch mehr wurde, lag am Wetter während des Tages. Die Hitze und die Schwüle haben uns die entscheidenden Körner gekostet. Aber auch sie hat sich toll durchgebissen
Ich kann den Lauf jedem Ultra nur empfehlen, und sei es als Staffel. Freiheit des Läufers an der Stelle einer tödlichen Grenze…..das sollten wir nicht vergessen.
Was sagte die Berliner Göre doch: „Boah….krasser Scheiß, eh!“


 Während ich da saß kam jemand auf mich zu und forderte mich auf "Zieh den Lappen da aus!" Ich ging eh duschen, aber da muss ich widersprechen. Wenn er meinen Zieleinlauf nicht gesehen hat, mag es ausgesehen haben wie ein schlechter Scherz. Aber: Erstens ist das eine Sportjacke, keine Trainingsjacke der NVA oder der Grenztruppen. Darin steckten Sportler, die ich auch respektiere. Denn gedopt wurde im Westen auch. Ich gebe aber zu, dass ich mir dann im Ziel etwas anderes hätte überziehen können. Aber daran dachte ich ebenso wenig nach 100 Meilen wie der LAufkollege über den agressiven Ton in seinem Spruch. Ich ging duschen. Vielleicht liest er das hier und macht sich auch nochmal Gedanken. Ich habe sie mir gemacht. 

Mittwoch, 19. August 2015

100 Meilen - Der Mauerweglauf Berlin Teil 3

Bevor Claudia und Yvy kommen, laufe ich weiter. Henning nimmt noch einen Becher und folgt mir. Gleich nach Verlassen des Brauhauses sehe ich zur rechten das Schloss Cecilienhof. Hier baute der letzte Kronprinz Wilhelm 1914-17 im englischen Landhausstil, hier tagten im Juli und August 1945 US-Präsident Truman, Stalin und Churchill, nach dessen Abwahl mittendrin dann Attlee, konnten sich nicht einigen, zementierten die deutsche Teilung und begannen den kalten Krieg. 
unsere Potsdamer Konferenz - Schloss Cecilienhof Potsdam

Dies erzähle ich einem US-Amerikanischen Touristen neben mir auf Englisch, der ganz überrascht war, dass Präsident Truman von hier aus den Abwurf der Atombomben telefonisch befahlt. Ein bedeutsamer, aber zugleich wunderschöner Ort. Weiter geht es über Parkwege entlang der Seen Richtung Glienicker Brücke, die wir schneller als erwartet erreichen. Eben noch fernab am Schloss Sacrow, nun schon hier. Henning und ich freuen uns, dass es noch gut voran geht. Die Glienicker Brücke unterlaufen wir erst, um dann in großem Bogen ihre Rampe zu erklimmen. Das kann man laufen. Oben bleibe ich stehen, die Sonne ist wieder da und bescheint eine herrliche Szenerie mit dem berühmten Dreischlösserblick.
weltbester Radbegleiter Henning
Ich sehe über die Brücke nach Westen und stelle mir den letzten Agentenaustausch im Februar 1986 hier vor. Dunkle Limousinen und Militärjeeps auf beiden Seiten. Nebel über den Wasseroberflächen. Kommandos über die Brücke. Dann Typen in schwarzen Mänteln, die sich in der Mitte begegnen. Völlig irreal in diesem herrlichen Sonnenschein. Das diskutiere ich auch kurz mit Lars, dem Schlurfer von eben, der wieder gut angelaufen ist. Mit Deutsch ging es nicht so gut, auf Englisch dann besser.
Mit Däne Lars auf der Glienicker Brücke
Ich mag diese internationale Atmosphäre hier. Ein kurzes Stück zwischen Schloß Babelsberg zur Rinken und Schloß Glienicke zur Linken, beide in extrem gut gepflegten Gartenanlagen, geht es rechts wieder weg von der Straße, vorbei an der einstigen Ost-Exklave Klein-Glienicke vorbei, wo nur eine einzige Zufahrtstraße von Babelsberg aus hin führte. Entlang des Griebnitzsees laufen wir durch Babelsberg, die Mauer verlief hier am Uferrand, die Grenze im Wasser. Hier stehen die Villen aus den ersten Jahren des vorigen Jahrhunderts, eine schöner als die andere auf beiden Seiten der hügeligen Straße. Den Uferweg haben die Anwohner leider versperrt, hier läuft seit Jahren ein Rechtsstreit mit Stadt und Land. Ohne viel vom Griebnitzsee zwischen den Anwesen hindurch sehen zu können laufe ich weiter, immer noch in einer Pace von 7 – 7:20. Aber das ist gut und richtig. Ich darf jetzt mein Fahrgestell nicht dazu zwingen wollen, die Pace unter 7 Minuten zu halten, wie ich es vielleicht gerne gehabt hätte. Die Beine laufen gerade von alleine und das werden sie noch eine ganze Weile tun, wenn ich nicht diese Fehler mache. Also nehme ich es hin. Nach den Villen geht es dann hinab zum gesperrten Ende des Uferweges, zum VP 15 an der Gedenkstätte Gribnitzsee. Ein Mauerrest mit niedergelegten Kränzen, eine Steele für einen hier zu Tode gekommenen „Grenzverletzer“ und bequeme PVC-Stühle statt der bisher häufig verwendeten Bierzeltbänke. Ich setze mich, mein Page Henning bedient mich gemeinsam mit der VP-Beatzung. Top-Service. Ich erfahre, dass meine Schalker 2:0 in Bremen führen, was meine Stimmung noch weiter anhebt. Dann ein kurzer Smalltalk mit dem VP-Betreiber. Ich erzähle, dass die Mauer für mich eine Bedeutung hat, von meiner A-Jugend Abschlussfahrt 1986 nach West-Berlin und dem Mauerspaziergang damals. Was, wenn ich damals meiner Freundin Claudia geschrieben (so was tat man damals noch!)hätte: „In drei Jahren ist die Mauer weg und in 29 Jahren laufen wir den ganzen Verlauf mit 161 Kilometern am Stück!“ Wir lachen gemeinsam und spekulieren, wo man mich wohl wegen beider Ankündigungen eingewiesen hätte. Nun ist sie weg, die Mauer, nicht Claudia. Mit der bin ich bekanntlich seit 24 Jahren glücklich verheiratet und die lasse ich grüßen, als wir wieder aufbrechen. Nein, vorher philosophiere ich noch kurz mit dem Mann vom VP. Ich habe 1987 im Westen bei der Bundeswehr „gedient“. Es hätte ja auch im Osten sein können. Hätte ich geschossen, wäre ich an die Grenze kommandiert worden?  Ich möchte diese Frage nicht klar beantworten, ausschließen will ich mal gar nichts.
Gedenkstätte Griebnitzsee - Km 90
Der Lauf ist halt nicht nur ein Lauf. Noch immer bleibe ich nicht länger als 4 Minuten, dann das kostet Durchschnittspace. Kurz hinsetzen motiviert aber inzwischen ungemein als kleines Zwischenziel. Wir laufen los, Claudia und Yvy müssen aber noch kurz hinter uns sein. 90 Kilometer erledigt, die hundert Kilometermarke ist nicht mehr weit. Dann geht es Richtung Kohlhasenbrück und zum Königsweg in den Wald. Ich erzähle Henning vom Kaufmann Hans Kohlhaas und seinem Rachefeldzug für widerrechtlich eingehaltene Pferde, von Heinrich von Kleist, der sich unweit von hier im Wald erschossen hat und seiner Novelle Michael Kohlhaas und vom Widerspruch, den Recht und Gerechtigkeit manchmal bilden können. Absolute Gerechtigkeit wird es nicht geben, auch hier haben Frauen und Männer beispielsweise den gleichen Zielschluss und die gleiche 24-Stundengrenze für den Buckle. Gerecht? Solche Gespräche unterwegs sind auch wichtig und sinnvoll, sie halten auch den Geist beider Teammitglieder wach. Denn der der auf dem Rad sitzt, hat einen schwierigen Job. Er geht nicht an dieselben körperlichen Grenzen, ist aber Müdigkeit und Haltungsschmerzen ausgesetzt. Er ist quasi „Befehlsempfänger“, reicht an und bedient, obwohl er selbst müde ist. Henning macht das hier ausgezeichnet, dabei muss er bisher noch nicht mit schlechter Laune klarkommen. Alleine ist das alles viel schwieriger, nicht nur wegen des Rucksacks. Der Königsweg von Babelsberg nach Zehlendorf und Kleinmanchow führt schnurgerade durch den Wald und folgt dem Postenweg. Als Kutschenweg für den Soldatenkönig im 18.Jahrhundert gebaut ist er 6 Kilometer lang, das längste Geradeausstück. Ich laufe immer noch, wie Henning mit glaubhaft bescheinigt, aber auf dem erneut welligen Königsweg. Regen hat eingesetzt. Die Gewitter grollten woanders, aber der regen wird stärker und ist mir im Moment eine angenehme Erfrischung. Wir sehen einen Läufer vor uns, einen weiteren hatte ich kurz vor dem Wald überholt. Es wird immer welliger, der anfangs perfekt geschotterte Weg wird immer schlechter und wir immer nasser. Den Läufer vor uns haben wir, wir laufen ein Stück beieinander, fragen ob er etwas braucht und füllen ihm seine Trinkflasche mit Wasser nach. Hat Henning ja genug auf dem Rad und beim Ultra läuft man miteinander und nicht gegeneinander. Mir ist das mittlerweile auch völlig egal. Meine Uhr weicht nun schon 2 Kilometer von den Zielangaben an den VP ab. Also muss ich noch weiter laufen, als meine Uhr mir anzeigt und also darf auch die Pace nicht weiter sinken. Rechts im Wald liegt die West-Exklave Albrechts Teerofen, dahinter im Wald der alte Autobahngrenzübergang der A115. Die DDR hatte die Trasse verlegt, weil sie immer mehrfach die Staatsgrenze wechselte und so für ihre Bürger nicht nutzbar war. Ich habe jetzt schnell wechselnde Kleinkrisen. Mal laufe ich durchaus angestrengt, erreiche aber nur knapp noch eine 7 vor der Pace. Einen Kilometer wird es grundlos leichter und es kommt sogar noch eine 6:44 dabei raus. Zwei junge Mädchen kommen den Waldweg von rechts und biegen hinter uns ab, überholen uns bald. Wir wechseln ein paar Worte, die beiden sind mir zu schnell und schnell nach vorne weg. Die machen vielleicht 6er Pace und ich kann sie nicht halten. Ich lache mich kaputt. Ein Staffelläufer hängt sich dran und erfreut sich längere Zeit an  ihrem Anblick. Die machen es jedenfalls richtig, sie gehen raus und bewegen sich. Jeder, sei er noch so langsam, überholt jeden, der auf der Couch liegt. Sieht Henning genauso und kriegt selbst wieder mehr Laust aufs Laufen, das schwankt bei ihm schon mal. Er ist ja auch schon Ultras gelaufen, aber nie mehr als so 60 Kilometer. Wir laufen über die verlegte Trasse der Autobahn, gestern fuhren wir bei der Anreise noch unten durch und malten uns aus, wie es heute sein würde. Jetzt sind wir schon hier bei Kilometer 96. Ist der Wald da vorne endlich zu Ende? Nein, nur eine Straße, eine Siedlung und immer noch kein VP. Dann endlich haben wir ihn erreicht. Fast pünktlich lässt der Regen ein wenig nach. Der VP hat nasse Stühle zu bieten, aber da ist mir egal, ich bin ja eh nass. Hier wird mir zum ersten Mal leicht kühl und es geht wieder schnell weiter. Leider laufen wir nun zu dritt, den  Wolfgang hat sich dazu gesellt. Der regen war’s, meine Adduktorengegend fühlt sich auf einmal sehr wund an. Das kann ja noch heiter werden. Ein paar Ecken, dann eine Wohnsiedlung in Kleinmanchow. Jemand hat einen privaten kleinen Verpflegungsstand unter einem Sonnenschirm aufgebaut. Ich nehme einen Schluck Wasser und ein paar Salzstangen, die ich aber nur schwer herunterbekomme. Die Sonne ist da, es dampft wieder auf dem Asphalt und mir ist elend schwül-schwitzig. Aber ich laufe, wie Henning immer so schön sagt. 100 Kilometer sind erledigt, nach meiner Uhr. Wir sind am Teltowkanal, dann kann es nicht mehr weit zu Kilometer 103 und damit zum Wechselpunkt sein. Nein, der „Kanal“ ist völlig verschilft, selbst ich akribischer Vorbereiter weiß nicht, was das mal war oder werden sollte. Ich rede erstmals über Gehpausen. Mir tut Nichts weh, nur die Beine werden halt schwerer und schwerer. Beim VP in Teltow an der Sporthalle, wo man duschen und sich hinlegen kann, werden wir etwas länger Pause machen. Die 13 Stunden werden knapp, sind aber noch zu erreichen, was einzig an den schon über zwei zu wenig angezeigten Kilometern auf meiner Uhr liegt. Dann hätte ich bei einer halben Stunde Pause, WC, umziehen und essen 10,5 Stunden für 58 Kilometer. Gehtempo! Dann ist das Erreichen des Ziels sicher, wenn ich mir kein Bein breche. Endlich sind wir am Teltowkanal. Wieder erzähle ich Henning von den Treidellokomotiven, die bei Eröffnung um 1907 herum die Kähne gezogen haben. Die Amerikaner kopierten das System, als sie 1914 den Panamakanal fertig bauten. Auf deren Treideltrassen laufen wir gerade. Ich weiß, dass wir erst über eine Brücke müssen und dann wieder fast 500 Meter am anderen Ufer zurück, aber da ist keine Brücke. Dafür wieder Läufer, die wir überholen. Wann kommt die dämliche Brücke? Die Kirche des Ortes Teltow am anderen Ufer ist zu sehen, die ist nicht weit vom WP, das hatte ich gelesen. Also kann es nicht mehr weit sein. Endlich geht es bergauf, die Rampe zur Straße ist erreicht. Einen überholen wir noch, dann geht es hinter der Brücke wieder ein ganzes Stück zurück. Drüben auf der anderen Straßenseite kommen bereits wieder Läufer entgegen. Auch Normann und Betty auf dem Rad sehen wir. Winken, Glück wünschen, weiter. Irgendwo ist sich ja jeder selbst der nächste. Dann sind wir da. Der VP ist in der Turnhalle, dort ist es schön stickig. Die Logistikcheckliste läuft runter. Foto, Posting für die fiebernde Fangemeinde, Suppe löffeln, trinken.
Turnhalle Teltow - Wechselpunkt und Pause. ganze 30 Minuten!
Keramikabteilung, dann kann man sich dann auch eine frische Hose anziehen. Wolfgang ist mit auf dem Klo und ich bekomme ihn erstmals zu Gesicht. Kein schöner Anblick. Vielleicht hilft ja die frische, trockene Hose. Als wir weg wollen, kommen Claudia und Yvy an. Wir haben eine knappe halbe Stunde Vorsprung. Es geht ihnen gut, wir machen noch ein Foto.
Das letztegemeinsame Foto - vor dem Ziel
Vor dem Ziel sehen wir uns wahrscheinlich jetzt nicht mehr, denn auch die Mädels wollen Pause machen. Ich bin nun tiefenentspannt. Die trockene Hose scheint zu helfen, Wolfgang scheint am WP zurückgeblieben zu sein. Der Hund der! Zeitlich bin ich genau bei den 13:30 h, habe also noch 10:30. Für 58 Kilomter, wie gesagt. Das ist nur noch wenig mehr als ein Marathon, sage ich mir.  Ich kann jetzt gehen und jeder Meter, den ich laufe, bringt mich schneller ans Ziel. Schnell ist die Brücke über den Teltowkanal wieder erreicht. Was  nun folgte, hatte ich mir definitiv leichter vorgestellt.


100 Meilen - Der Mauerweglauf Berlin Teil 2

Die Landschaft ist hier im Norden Spandaus herrlich, aber die Sonne knallt nun unbarmherzig. Ich habe mir bereits seit VP 7 angewöhnt, alle drei VP’s Salztabletten zu mir zu nehmen.
Mit Jörg von der AIDA-Lauftour 2009
Am VP 8 fällt mir ein Läufer auf. Irgendwoher glaube ich ihn zu kennen, aber schon lange nicht mehr gesehen  zu haben. Aber erst mal verlassen wir vor ihm den VP und laufen durch den reichlich welligen Wald. An den kurzen Anstiegen gehen wir bereits, denn wir wollen keine unnötigen Körner verbrauchen. Aber das nervt uns unterbricht hier ständig den bisher so guten Laufrhytmus. Dann kommen jetzt langsam von hinten Staffeln an uns vorbei. Und dabei ist auch wieder der bekannte Läufer. Ich spreche ihn an. „Wir kennen uns irgendwoher, oder?“ Er schaut mich an und ich sage „Aida 2009!“ Da fällt der Groschen. Jörg ist hier aus Berlin und hatte damals mit seiner Familie die Laufreise mitgemacht. Dann fiel ihm auch der bunert-Schriftzug auf unseren Shirts auf, aber im Vorbeilaufen sieht man sich ja meist nicht aus dieser Perspektive. Er läuft hier die 10er-Staffel, den Abschnitt von Km 71. Wir reden ein paar Sätze und erhalten einige Informtionen dazu, wie das hier früher aussah. Noch ein Erinnerungsfoto und eine Facebook-Verabredung, dann lassen wir ihn ziehen, denn wir wollen uns nicht in 6er Pace hier verleiten lassen. Der VP 9 bietet einen Wasserschlauch, dankbar lassen wir uns die Köpfe abduschen.
Dusche - schön!
Mit klatschnassem Oberteil geht es weiter, das kühlt aber erstmal ein wenig. 52 Kilometer, gut 6 ½ Stunden, es ist halb ein Uhr mittags. Der VP hier leidet ein wenig unter der prallen Sonne, die Käsebrote und Salamibrote sind unappetitlich wellig, aber was sollen sie machen? Ich zwinge mir eine halbe Scheibe trockenes Graubrot hinein und konsumiere  ein wenig Obst. Bisher klappt das Ernährungskonzept mit regelmäßigen Kleinigkeiten und ich habe noch kein Hungergefühl. Es würde ja nicht mehr lange dauern, bis unsere Radbegleiter zu uns stoßen. Ich schreibe es Henning, wo wir uns gerade befinden und höre, dass sie bereits unterwegs sind. Wir hatten eine italienische Läuferin ein Stück begleitet, die sehr schlecht Englisch sprach. Irgendwie gelang doch eine Unterhaltung, sie wollte es noch bis 71 durchziehen und dann herausgehen, da sie Verletzungsprobleme am bereits getapeten Bein hatte. Spandau wird auf grünen Wegen durchquert, der Ortsteil Staaken, den wir gerade passieren, war durch die Mauer geteilt. Es geht wieder ins Grüne, ein Anstieg zum Fort Hahnenberg zwingst uns zum Gehen. Schatten ist rar. Der Läufer neben uns erzählt, dass dies hier seine zweite Teilnahme ist, er im letzten Jahr relativ unbedarft daran teilgenommen hat, es schaffte und nun die „Back-to-back“-Medaille holen möchte. Bezüglich unseres Tempos sind wir uns mit 6:30 einig und so laufen wir erst einmal ein Stück zusammen. Wieder nette Unterhaltung für ein Stück. Hinter dem Fort, welches auf dem Hügel nicht zu sehen ist, geht es hinter Gärten oder Kleingärten entlang zum nächsten VP. Hier würden hoffentlich Yvy und Henning bereits auf uns warten. Leider war mein Handy mehrmals abgestürzt, was ich natürlich nicht sofort bemerkte und so war die Erreichbarkeit für die beiden nicht immer gegeben. Aber wir sind eigentlich noch genau in der 7er Pace einschließlich Pausen, die wir gestern Abend kalkuliert hatten. Unsere Rucksäcke würden wir schon in der Mittagshitze loswerden. Der VP arbeitete mit der Verbrennung von Kaffeepulver, um die zahlreichen Wespen von unserer Verpflegung fern zu halten. Wie sagte der Rennarzt zu diesem Thema doch gestern gleich? „Wenn ihr allergisch gegen Wespengift seid und dazu kommt dann ein durch das lange Laufen stark erschöpfter Allgemeinzustand, können wir auch nicht mehr viel für Euch tun!“ Gut zu wissen, also Augen auf beim Schluck aus dem Schorlebecher und beim Biss in den Apfel. Wir laufen weiter, da hören wir von hinten Stimmen. Es sind Yvy und Henning. Die beiden waren mit der Bahn bis Spandau gefahren,
Yvy und Henning im Anmarsch - Spandau Bhf
hatten die Fahrtzeit unterschätzt und waren dann bei VP 9 auf die Strecke gestoßen. Da waren wir aber schon durch wie man ihnen sagte, also sind sie hinterher. Jetzt hatten wir uns ja. Bisher hatte ich mit Claudia einen nahezu perfekten Lauf erlebt, wir waren im selben Flow. Aber langsam begann sich das zu ändern, also kam die Begleitung nun zum absolut richtigen Moment. Rucksack ab und auf dem Gepäckträger verstaut, dann lief ich mit Henning auf dem Rade los. Yvy und Claudia folgten kurz dahinter. Es geht nun auf einem „nicht enden wollenden Radweg“, wie das Roadbook so schön beschrieben hatte, die B2 entlang. Links neben uns die Gatower Rieselfelder, wo früher die Exkremente der Hauptstadt dem märkischen Sand zur Filtrierung überlassen worden. Gut, das dem zumindest oberirdisch nicht mehr so ist, bei der Hitze wäre hier sonst die K**** am dampfen. Dafür werden wir am Ende der Straße nach einem Abzweig in eine schattige Wohnsiedlung bereits von einem Moderator begrüßt. Der VP 11 Pagel and Friends wartet in einem privaten Vorgarten auf uns. Alles da, sogar kaltes Bier.
VP Pagel & Freinds im Vorgarten - Klasse

 Ich verzichte und verpflege mich nur mit Obst, Wasser, Salztablette und Schorle, dazu vor dem Abmarsch noch ein Gel. Claudia und Yvy sind noch nicht weit hinter uns, fast parallel starten wir wieder. Ein schönes Tor zum Durchlaufen,
dann erreichen wir wieder einen See mit einem etwa 100 Meter langen Mauerstück samt Signalzaun davor. Der Groß-Glienicker See zwischen Groß-Glienicke und Kladow. Auch hier lief die Mauer mittendurch. Ein französischer Teilnehmer und wir fotografieren uns gegenseitig, leider scheint er den Auslöser nicht getroffen zu haben.

Mauerreste
 Auch Henning ist von der Gegend hier schon genauso begeistert wie ich. Das Berliner Umland ist einfach ein Traum. Schön, dass man es heute so ungehindert betreten darf. Der nächste VP ist bereits wieder ein Wechselpunkt mit Dropback Nr. 2. Wie lange ist das schon her, dass wir uns an WP 1 beim Ruderclub anfühlten wie gerade erst los gelaufen? 67 Kilometer, 14 Uhr und damit seit 8 Stunden unterwegs und dem Plan ein Stück voraus. Hier aber wird es wellig, es folgen immer wieder Anstiege, die zum Gehen zwingen. Darunter leidet die Pace. Aber es ist schön, diese jetzt nicht mit Gewalt halten zu müssen. Jetzt daran zu denken, es wären ja nur noch so 14-16 Stunden kommt für mich nicht in Frage. Hennig sagt, mein Laufstil sähe noch sauber und locker aus. Das kann man nicht mehr von allen Läufern hier sagen. Daher freue ich mich, dass es mir gut geht und wir bewundert gemeinsam die netten Häuser hier am Seeufer, die sicherlich nicht zum sozialen Brennpunkt zählen dürften. Am Ende des Sees biegen wir in den Wald. Der Weg hier besteht aus hellem, sandigen Belag und staubt wie die Main Street von Tombstone zu Wyatt Earps Zeiten. Dazu geht es fies bergan. Dafür hat es sich ein wenig zugezogen und es ist nun nicht mehr heiß sondern schwül. Im Moment weiß ich nicht, was mir lieber wäre. Mehrfach denken wir, dass wir endlich oben wären, aber nichts da. Wieder eine Bodenwelle. Dann erreichen wir eine Straße, die relativ befahren ist. Autofahrer haben jetzt nicht so viel Verständnis, dass erschöpfte Läufer lieber den Asphalt als den bröseligen Seitenstreifen, der in Schotter ausfranst, benutzen wollen. Der Wald hier ist schön, die Straße schlängelt sich in Kurven leicht bergab Richtung Sacrow mit dem gleichnamigen Schloss und Wechselpunkt. Ich mache kurz vor dem Zwischenziel eine Bestandsaufnahme meines Kadavers. Nach 70 geschafften und 90 noch zu laufenden Kilometern ein guter Zeitpunkt, während Henning verkehrsbedingt gerade hinter mir fahren muss. Füße gut, Schuhwechsel unnötig. Meine On Cruiser laufen wie eine eins. Beine in Ordnung, Waden bestens und keine Spur von Krampfanfällen, also mit den Salztabletten bisher richtig dosiert. Oberschenkel sind beim Berganlaufen im hinteren Teil langsam leicht zu merken, aber das ist noch kein Problem und wird erfahrungsgemäß auch keines. „Wolfgang“ lässt mich bisher in Ruhe, keine Scheuerstellen im Schritt. Mein Bauch fühlt sich sehr gut an, weder leer noch voll. Strategie des immer ein wenig Essens also auch bisher richtig. Schultern und Rücken locker und relativ unverspannt, auch gut. Rucksack ab sei Dank. Sonnenbrand habe ich wohl auch durch mehrfaches Einsprühen unterwegs mit Sonnencreme vermeiden können, jetzt ist es bewölkt und damit egal. Und mein Geist ist frisch wie am Start, ich freue mich auf den Park und das Schloß Sacrow.
WP 2 Schloss Sacrow - Kilometer 71
Da sind wir dann auch angekommen. Wieder steigt uns der verbrannte Kaffeegeruch in die Nase, dafür aber auch keine Wespen am Stand. Jörg von der Aida kommt kurz nach uns und ist ziemlich fertig. Ist er aber als Staffelläufer ja auch wirklich. Claudia und Yvy kommen dann auch nach nicht allzu langer Zeit. Wir beschließen, uns angesichts heraufziehender Windböen und drohenden Gewitters nicht lange aufzuhalten und den Verlockungen des Unterstellens auszusetzen, sondern laufen um das Schloss herum auf die Havel zu. Am Wasser haben wir einen freien Blick auf die Glienicker Brücke, die in vielleicht 1,5 Kilometer Entfernung am anderen Ufer liegt.


Blick zur Glienicker Brücke - nur noch um s ein paar Seen herum bis dahin
So nah und doch so fern, denn während die Grenze hier mitten durch die Seenlandschaft der Havel zur Brücke verlief, müssen wir den Bogen um den Jungfernsee nach Potsdam hinein machen. Schnell ein Foto, dann los. Wir kommen aus dem reichlich ungepflegt wirkenden Schlosspark in den Wald. Irgendwo da gegenüber muss der VP 14 „Brauhaus Meierei“ liegen, wo es frischgezapftes Bier geben soll. Das motiviert Henning, wir bewegen und durch den Wald. Am anderen Ufer scheint es aus dichten schwarzen Wolken zu schütten, hier ist es einfach nur mörderisch schwül. Du bist immer feucht auf der Haut und fühlst einen Schweißausbuch nach dem anderen. Da war mir echt die Sonne lieber. Ein paar einzelne Tropfen, aber so richtig etwas ab bekommen wir hier auf den wurzeligen, aber ganz passablen Waldwegen nicht. Der Blöde See, den ich durch die Bäume sehen kann, will einfach nicht aufhören. Rechts ab, wellig in den Wald hinein, der nächste See. Denn es ist nicht nur der Jungfernsee, der uns vom gekühlten Gerstensaft trennt, nein es folgt noch der Lehnitzsee und dann der Krampnitzsee. Nach gefühlt endlosen Waldkilometern dann endlich VP Forsthaus Krampnitz am Kopfende der Grenzumgehung. Claudia und Yvy wieder erst kurz hinter uns, meine Frau läuft hier wirklich super bisher. Das motiviert mich natürlich auch. Das klappt alles so gut hier trotz der Hitze, ich bitte inständig wen auch immer, dass das annähernd so bleiben möge. Wobei mir klar ist, dass das nicht so kommen wird. Henning ist etwas interessiert an den historischen Rahmenbedingungen und darin nicht so bewandert, da mein Audioguide sich versehentlich schon gelöscht hat erzähle ich ihm also die Dinge aus dem Kopf. Über den Koreakrieg und die Potsdamer Konferenz bis zum Mauerbau, wenn es ihn nicht interessiert hat konnte er es zumindest gut verbergen. Hinter dem VP regnet es dann mal kurz und heftig, aber sofort danach lugt schon die Sonne wieder durch die Wolken, was sofort dampfende Straßen und eine Luft wie in Kambodscha zur Folge hat. Die Strecke entlang des stetig ansteigenden Radweges einer Potsdamer Zubringerstraße ist jetzt nicht schön, aber wir überholen immer wieder Läufer, während von hinten nur Staffeln kommen. Aber das macht mir psychisch echt nichts aus, es motiviert mich auch nicht. An einer Leitplanke steht ein Läufer, der immer wieder Krämpfe zu haben scheint. Er braucht keine Hilfe und so geht es vorbei. Ein älterer Mann mit Schlurfschritt trottet vor uns den Berg hoch, den ich gerade strammen Schrittes marschiere. Bei Kilometer 80,5 rufe ich die Halbzeit aus. War noch nicht ganz so, wie sich später herausstellen sollte, aber motiviert ungemein. So 9 Stunden 47 Minuten sind wir unterwegs. „Das wird eine geile Zeit“ meint Henning, aber ich gemahne zur Vorsicht. Das geht so nicht weiter, das weiß ich und Dann erreichen wir den Ortsrand von Potsdam und dürfen an einer umgebauten Kaserne abbiegen. Die Hoffnung auf das Brauhaus nimmt Gestalt an. Leider geht es noch um etliche Ecken, ehe wir die gastliche Stätte endlich erreichen. Im „Vorhof“ fanden es leider auch die Wespen gastlich, was zur Vorsicht mahnte. Ich lasse mir einen halben Becher Bier zapfen. Das müsste ich vertragen können. Henning darf mehr trinken. So drei bis vier Minuten nehme ich mir nun an den VP, dann geht es weiter. Ich schaue immer, dass sich der Gesamtschnitt einschließlich der Pausen nicht zu sehr verschlechtert. Wenn das hier so weitergeht, denn noch bin ich wohlauf, wird das wirklich eine endgeile Zeit. Und wenn nicht, gehe ich den Mist eben zu Ende und habe meinen Buckle dann sicher. Das nächste Etappenziel nach dem Bier wird mit Wechselpunkt 3 in Teltow ausgerufen. Hier möchte ich gerne nach 13 Stunden sein, das heißt, ich habe noch 2 ½ Stunden für 18 Kilometer. Hört sich komfortabel an.


Dienstag, 18. August 2015

100 Meilen - Der Mauerweglauf Berlin Teil 1

Von 0 bis Marathon

100 Meilen laufen – ist das noch vorstellbar? Klar, nachdem Claudia und ich ja 2013 die 100 km in Biel bezwungen hatten und in 2014 den nicht minder schweren K78 in Davos, war zumindest mir klar, dass die 100 Meilen der nächste Schritt sein würden. Nach Danielas Bericht vom letzten Jahr war auch meine Claudia sofort hin und weg und ich musste sie nicht mehr…..sagen wir überzeugen. Für einen Geschichtsfreak wie mich ist der Mauerweglauf ja dann auch irgendwie genau das richtige.
Also meldeten wir uns kurzentschlossen an, es war ja noch ein Jahr Zeit! Dann ist es ja auch die weitere logische Zwischenetappe zum nächsten Ziel – der TorTour de Ruhr 2016, welche uns als Helfer im letzen Jahr auch dermaßen beindruckt hatte, dass zumindest mir klar war, diese auch einmal bezwingen zu müssen.

Wie geht man ein solches Event an, wenn man noch nie weiter als gut 100 Kilometer gelaufen ist? Nun ja, der Traildorado am Glörsee im letzten Herbst war schon einmal ein Anfang, 105 Kilometer Trail in 24 Stunden war ein guter Einstieg für Körper und Geist. Danach folgte zunächst ja mal die Vorbereitung auf den schnellen Frühjahrsmarathon in Wien. Für mich eines meiner beiden großen Ziele 2015, welches ist ja ich dann leider nicht erreichen konnte. Aber die 100 Meilen waren irgendwie ja doch die größere Herausforderung. Yvy, unsere Lauffreundin aus der Ausdauerschule hatte sich ja in einem Anflug geistiger Umnachtung zur Radbegleitung bereit erklärt, spätestens im Trainingslager im März kam auch Ihr Freund Henning nicht mehr aus der Nummer „Wenn Du keinen andern findest, mach ich es  bei Dir!“ heraus. Wen soll ich in Berlin schon sonst finden?
Nun ja, Wien war in die Hose gegangen, der Seilersee als Experiment 100 + X aber mit 130,8 Kilometer in 24 Stunden erfolgreich bewältigt worden. Die 30 hinten drauf konnten ja nicht so schlimm werden!
Die Planung 2015 sah nach dem schnellen Marathon in Wien 14 Tage Pause, dann den Ultra am Seilersee und im Mai/Juni einige Marathonläufe „zum Training“ vor. Das Konzept lief gut, denn die Marathonläufe an fast jedem Wochenende machten Spaß. Es ist herrlich, nach 4 Monaten Trainingsplandisziplin das Vergnügen zu erleben, ohne Zeitdruck und in respektvollem Abstand vom eigenen Limit all diese schönen Laufveranstaltungen zu genießen. Aber reichen Marathonläufe? Es sind nur 42,195 Kiometer, das ist nur gut ein Viertel der Wahnsinnsdistanz, die wir da vor der Brust hatten? Ein Wochenende zu Pfingsten hatten wir ja noch mit 100 Kilometer Gesamttrainingsdistanz in drei Tagen garniert. Nun, ich bin der Auffassung, dass der Grat zwischen „sich kaputt trainieren“ und einer optimal ausreichenden Vorbereitung ein sehr schmaler ist. Also mussten irgendwie ein bis zwei noch längere Läufe in die unmittelbare Vorbereitung eingebaut werden. Das taten wir dann auch. Die belgische Küste mit 70 Kilometern und den Sternlauf Münster mit 78 Kilometern bewältigten wir bei unterschiedlichsten Wetterverhältnissen recht gut, dazu noch etliche Fahrradkilometer mit unseren Rennrädern. Ich fühlte mich gewappnet und ich glaube, meine Frau auch.
Eine physische Vorbereitung ist beim Ultra aber nur die Hälfte der Vorbereitung, mindestens ebenso wichtig ist die mentale Vorbereitung. Man muss 100 Meilen im Kopf hinbekommen, denn schwer wird es immer unterwegs. Ich pflege mich dabei immer gründlichst auf den Kurs einzustellen, in diesem Falle, indem ich für meine Frau einen Audiovisuellen Guide für das Handy drehte. Nun ja, ich hatte noch eine Woche Urlaub zuhause und das Wetter war schlecht! Also ging ich die Strecke Kilometer um Kilometer durch, ergänzte das Roadbook des Veranstalters um eigenes Wissen, teilweise durch Internet-Informationen vertieft und sprach dies, garniert mit kleinen Einspielfilmchen und Originaltönen in meine Webcam. So kam es mir vor, als sei ich die Strecke schon mehrfach gelaufen, mir war aber auch die Bedeutung vieler Orte klar, auf die ich dabei sehr neugierig wurde.
Die Anreise war für Freitag geplant, früh um sieben ging es dann los. Die Räder von Yvy und Henning aufgeladen. Es war bereits lecker warm, für Berlin waren so 35 Grad angesagt. Für den Raceday am Samstag änderten sich die Prognosen gefühlt alle 10 Minuten. Ursprünglich war es wolkenlos bei 38(!) Grad, dann ging es langsam Richtung mehr oder weniger bewölkt, zuletzt kamen Gewitter und sogar eine Unwetterwarnung dazu. Claudia schien das in der letzten Woche dann doch nervös gemacht zu haben, mich ließ das relativ unberührt. Lediglich vor einem Rennabbruch wegen Unwetter hatte ich echte Angst. Aber laufen ist eine Freiluftsportart, darum lieben wir sie alle ja so. Da muss man dann halt auch mit den Verhältnissen klarkommen. Beim Sternlauf Münster waren es auch 28 Grad, und der ging ja tagsüber zu Ende. In der Nacht würde es nicht so schlimm werden, dachte ich in meinem jugendlichen Leichtsinn. Gegen Mittag kamen wir in Berlin-Mitte an, nachdem wir zuvor bei Passage des ehemaligen Grenzübergangs Dreilinden die Strecke das erste Mal kreuzen durften, was bereits so etwas wie Ehrfurcht vor einer blöden Fußgängerautobahnbrücke auslöste. Immerhin würden wir hier 30 Stunden später schon über 90 Kilometer auf dem Tacho haben. Wir schmissen die Frauen vor dem Hotel mangels Parkmöglichkeit raus und stellten den Wagen am Jahn-Sportpark ab, wo wir von einer netten Dame dankenswerterweise noch eine Parkkarte erhielten. Bereits vor dem Hotel gab es das erste Hallo, als uns Ricarda und Christian über den Weg liefen. Wir holten gleich unsere Startunterlage, noch war da wenig Betrieb.
Delinquentenschau
Im Biergarten vor dem Eingang sammelten sich die Verrückten. Schön, wie viele man von denen ja schon kennt. Man fühlt sich wieder richtig normal, nachdem wir uns am Donnerstag beim Training der Ausdauerschule noch als grenzdebile Exoten fühlten.
Startunterlagenausgabe

Die Pasta-Party war dann schon einmal die beste, die ich je gesehen habe. Im edlen Veranstaltungssaal des Ramada-Hotels war ein Salatbüffet vom feinsten aufgebaut, dazu drei Sorten Pasta mit Bolognese, Veganer-Tofu-Sauce und Pesto, Eis zum Nachtisch und viel frischem Obst. Auch das Briefing in einem anderen Saal des Hotels wurde unerwartet humorig von Hajo Palm abgehalten, auch der Rennarzt war ziemlich schmerzfrei, als er die Ansicht verbreitete, mit angebrochenen Rippen oder so etwas könne man ja ruhig weiter laufen. Der Mann war mir sympathisch.
Dann mal ab in die Kiste, wobei es dann doch 10 Uhr war, bis wir unsere 3 Dropbags und die Fahrradtaschen gepackt hatten. Wechselklamotten in jeden Sack, die Nachtausrüstung mit Lampe und Warnweste vorsichtshalber in Nr. 2 (Km 72, man weiß ja nie!). Ersatzschuhe in die Fahrradtasche. War alles im richtigen Sack? Nichts vergessen? Mit Yvy und Henning verabreden wir, dass wir uns etwa zwischen Kilometer 45 und 50 treffen wollten. Hauptgrund dafür war, dass wir unsere Rucksäcke mit den Pflicht-Wasservorräten nicht länger tragen wollten. Bis dahin würden wir gut zusammen laufen können und würden uns noch nicht aufgrund unterschiedlicher Befindlichkeiten gegenseitig stören oder gar in Streit geraten. Näheres würden wir unterwegs per Telekommunikation lösen.

Inzwischen führten die Bayern dann mal 4:0 und ich lag im Bett. An gutem Schlaf mangelte es nicht, zumindest bis um 3:30 Uhr der Wecker ging. Ich mache kurz das Fenster auf, mir schlägt eklig schwül-warme Luft entgegen. Locker 25 Grad! Na ja, seis drum. Dämpfte zumindest meine Erwartung an die Kühle der kommenden Nacht! Immer noch war ich nicht wirklich nervös, sollte mich das beunruhigen? Noch schnell ein ordentliches Frühstück im Hotel, etwas getrübt durch die Tatsache, dass die Brötchen wohl noch nicht geliefert worden waren, dann ging es gemeinsam mit Daniela in den Shuttle-Bus,

der uns die zwei Kilometer zum Start bringen sollte. Auch hier das Treffen mit den üblichen Verdächtigen, ich möchte mir als 100-Meilen-Rookie gar nicht ausmalen, was die hier schon alle gelaufen sind. Und ehe man sich versieht ist es hell und wir stehen auf der Tartanbahn. Wir laufen gleich mal zusammen los und ich versuche, von Anfang an auf die Pace zu achten, um nur nicht zu schnell zu werden. Die Luft ist noch erträglich, aber die Sonne verbirgt sich noch hinter ein paar Wölkchen. Vorbei an der Schmeling-Halle und über den Schwedter Steg geht es unter der Bornholmer Brücke entlang, wo 1989 die Grenze geöffnet wurde. Ein erster besonderer Moment. Ich lasse Claudia hier noch ein über Lautsprecher an unserem Audioguide teilhaben. Norman nutzt uns hier noch als Bremse, er läuft gerne zu schnell los, wie er sagte. Das hält er aber nur wenige Kilometer durch. Durch Vorstadtarchitektur zwischen Pankow und Rehberge, dann entlang der S-Bahntrasse. Die Pace ist gut, zu langsam geht eigentlich ja nicht. Am ersten VP halten wir uns nicht lange auf, ein kleiner Schluck und weiter geht es. Wir laufen neben einer Läuferin und einem Läufer des LC Mauerweg her, er erzählt uns ein wenig mehr über die Strecke, während wir entlang der ehemaligen Bergmann-Borsig-Werke laufen. Dann passiert leider etwas, was in jedem Laurel-und-Hardy-Film zum tot lachen gewesen wäre, hier jedoch ganz und gar nicht lustig war. Während unser Begleiter mit uns spricht, sieht er eine Bekannte mit dem Rad am Straßenrand stehen. Er dreht sich laufend zu ihr um, ich hole gerade Luft, um ihn vor dem Poller zu warnen, da war es passiert. Genau in passender Höhe endete der Wegpoller auf gleicher Höhe wie der Schritt des Laufkollegen, dankenswerterweise war der Pfahl zumindest oben abgerundet. Es müssen dennoch ziemliche Schmerzen gewesen sein, die Vereinskollegin kümmerte sich um ihn und wir liefen nach kurzen guten Wünschen dann weiter. Wie wir später erfahren haben, war hier dennoch Schluss für den armen Kollegen. Von hier aus alles Gute! Das Mäkische Viertel, eine 60er-Jahre Hochhaussiedlung im Westen mit Geschichte als Apo-Quartier der Baaders und Dutschkes  und als sozialer Brennpunkt entlang geht es nach Lübars ganz in den dörflichen Norden. Claudia und mir geht es gut, aber nun bricht die Sonne endgültig durch die Wolken. Eine ganz tolle Landschaft öffnet sich, Felder und der Kirchturm von Lübars versprühen bäuerlichen Charme am Rande der
Dorf Lübars
Weltmetropole. Wir sind knapp 1:25 h unterwegs und kein Gedanke regt sich in mir daran, was noch vor uns liegt. Ich genieße einfach die berauschend schöne Gegend hier und freue mich auf das, was hinter der nächsten Ecke auf mich wartet. Eine Sanddünenlandschaft, fast wie an der Küste, umrahmt von Kiefern, dazwischen der Betonplattenweg. Wir treffen Läufer aus der fränkischen Schweiz, wo wir auch bereits Urlaub gemacht hatten, und haben wieder schöne Gesprächsthemen. Hier zwischen Hermsdorf und Glienicke, welches schon zu Brandenburg gehört, stehe einige Anwesen, bei denen die Armut der Eigentümer dadurch ihren Ausdruck findet, dass es sich beim Fußballplatz im Vorgarten nur um ein Kleinspielfeld handelt. Auch schön. Hoffentlich machen die Kids da Karriere, auf die Erben Boatengs werden sie da wohl nicht treffen. Claudia ist auch gut drauf, unsere Rucksäcke stören im Moment nicht wirklich und alles ist gut. Leider nur wird es immer wärmer. Dann haben wir am „Entenschnabel“, einer seltsam geformten Grenzdelle, die Oranienburger Chaussee erreicht, über die früher die Mauer verlief und die uns nach kurzer Zeit in den Wald und damit in den Schatten führen muss. Das tut er auch, leider kam hier irgendjemand in den zwanziger Jahren einmal drauf, man könne zwischen den Bäumen ja mal eine Siedlung bauen und schon mal mit der Pflasterung der Straßen beginnen. Das hat noch heute für uns gut zwei Kilometer unangenehmes Kopfsteinpflaster mitten im Wald zur Folge und wirkte irgendwie surreal. Aber das ist ja irgendwie der ganze Lauf, oder nicht? Endlich wechselt der Belag wieder auf Asphalt, der nur hin und wieder von einigen Wurzeln mit Stolperkanten versehen worden ist. Eine herrliche Gegend, wenn da nur nicht hin und wieder die orangefarbenen Stelen mit den Schwarz-Weiß-Fotos drauf wären. „Kann man sich gar nicht vorstellen, dass die hier im friedlichen Wald Leute erschossen haben“ sagt Claudia und mir fehlt auch die Phantasie, wüsste ich es nicht besser.
Naturschutzturm Waldjungend
Am VP wird es dann aber realer, denn der liegt am Naturschutzturm Hohenneuendorf, ein Relikt der Befestigungsanlagen. Ich nutze die Gelegenheit, um den Ort aufzusuchen, wo einst die Wachsoldaten Anschisse verteilten, dann geht es weiter. Schon 23 Kilometer und zweieinhalb Stunden sind wir unterwegs, ich fühle mich wie gerade los gelaufen. Und das ist auch gut so, wenn ich mal den letzten regierenden Bürgermeister zitieren darf. Wenn es jetzt schon hart würde, könnte man aufhören. Es sind ja „nur“ noch 138 Kilometer! Nach Verlassen des Waldes folgt ein ergreifender Abschnitt, die Stele von Marienetta Jirkowsky, jenem Maueropfer, dem in diesem Jahr das besondere Andenken und die Medaille gewidmet ist. Man hatte uns mit den Startunterlagen Visitenkarten mit dem Konterfei der damals achtzehnjährigen gegeben und uns gebeten, etwas drauf zu schreiben und sie hier an die Pinnwand zu stecken. Ich will hier nicht ihre ganze Geschichte erzählen, die kann man im Netz finden. Aber die Vorstellung, dass das Mädchen auf der Leiter steht, ihre Arme zu kurz sind, um die Mauerkrone zu greifen und ihr Freund sie gerade auf der Mauer liegend hochziehen will, als sie ihm quasi „aus den Händen geschossen“ wird, lässt einen schon erschaudern. Nicht irgendwo in Afghanistan, sondern hier mitten in Deutschland im Jahre 1980! Zwei Läufer vor uns scheint das nicht zu interessieren, die laufen ihren Stiefel runter und achtlos an den aufbauten Pinnwänden und uns vorbei. Hierfür fehlt mir dann doch das Verständnis. Wir laufen wieder in einen Wald und plötzlich taucht vor uns ein Ensemble alter Backsteinbauten auf. Auf den gepflegten Rasenflächen in der Sonne des Morgens ein wunderschöner Anblick. Wir sind in der Invalidensiedlung.
Invalidensiedlung
Havel bei Hennigsdorf
Die Gebäude erinnern in ihrem Militärisch ordentlichen Aufbau an eine Kaserne des 18. Oder frühen 19. Jahrhunderts. Früher bis auf die einzige Zufahrtsstraße in West-Berlin eingemauert, nun wieder von allen Seiten frei zugänglich. „jetzt sind wir aber ganz ‚oben‘?“ fragt Claudia mich. Ich bejahe und bei ungefähr 31 Kilometern sehen wir dann das erste Mal ein größeres Gewässer. Wir überqueren die Havel und sehen, wie sie zur Linken in den Nieder-Neuendorfer See übergeht. Ein toller Anblick mit den tänzelnden Segelboten in der Sonne.Leider fühlt sich die Sonne langsam nicht mehr so toll, sondern eher brennend an und wir sind froh, links hinter der Brücke den VP und ersten Wechselpunkt des Ruderclubs Oberhavel erreicht zu haben. Man reicht mir, ohne dass ich gefragt hätte, bereits meinen Dropback. Ich wechsele das verschwitzte T-Shirt gegen ein ärmelloses Shirt und ziehe eine Trockene Mütze und einen Nackenschutz an. Diese übergieße ich immer dergestalt mit Wasser, dass ich einen vollen Becher auf die Kappe stülpe und dann langsam sich das Wasser in Kopf und Schopf verteilen lasse. Herrlich, wie das kühlt. Meine Calfs nässe ich mit Schwämmen komplett ein, leidersind die gefühlt nach 200 Metern wieder furztrocken in der Hitze.

Wechselpunkt 1 Ruderclub Oberhavel, Kilometer 34
Ich poste kurz ein Foto an die Fangemeinde, dann geht es weiter. Leider erst einmal ohne Schatten. Es geht uns noch hervorragend und ich hatte Henning mitgeteilt, dass es reichen würde, wenn wir uns erst bei 51 Km am VP 9 treffen würden. Wir unterhalten uns mit zwei Läufern, die uns erst einmal auf gut 6:30-6:40 einbremsen, was vielleicht in der nun herrschenden schattenlosen Hitze nicht das verkehrteste sein dürfte. Ist ja noch ein Stück zu laufen. Einer begleitet hier nur auf 30 Kilometern und hat in Frankfurt den Ironman mitgemacht, mit dem quatsche ich ein wenig über Langdistanz-Triathlon. Passt ja gut hier am Wasser. Die beiden kennen sich aus und erzählen noch ein wenig zur Gegend um uns herum, auch das ist hier beim Ultra immer sehr angenehm. Man findet oft neue Laufpartner, mit denen man sich ein Stück des Weges die Zeit vertreibt. Weit weg ist die Hetzte und das auf die Uhr sehen eines Marathons auf Zeit. Klar sehe ich auch auf die Uhr und ich habe den Gesamtschnitt einschließlich der Pausen im Blick, aber bei den Zeiten und Distanzen hat das doch deutlich mehr Spielraum. Ich bin auch erstaunt, dass Claudia die Wärme so gut abkann. Der Weg führt über staubige, aber ordentliche Feinschotterwege direkt am Ufer des Sees zwischen Hausgärten mit frühstückenden Anwohnern auf den Terrassen und sonnenhungrigen Badewilligen auf der anderen Seite entlang. Hereinspringen wäre jetzt nicht das Schlechteste.  Der VP7 bei Km 38,7 liegt wieder an einem Wachturm, hier direkt am Seeufer. Schon fast ein Marathon. Kurz darauf verlässt die Strecke und damit die alte Grenze das Seeufer und biegt wieder in den Schatten des Waldes. Wir verlassen unsere Begleiter kurz nach der Marathonmarke. Marathon! Wir haben die erste Teildistanz tatsächlich schon geschafft, das ohne nennenswerte Ermüdungserscheinungen. Mein Kopf spielt mit und ich denke jetzt nicht daran, dass es erst gut ein Viertel der Strecke ist, die wir hinter uns gebracht haben. Ich rufe laut „Marathon“ durch den Wald. Wir sind doch recht froh, Schatten zu haben, denn das Entlastet Körper und Geist ungemein. Leider hat es sich damit bald wieder, denn nun führt der Weg am sonnigen Waldrand entlang .