Ich laufe wieder an, sobald ich die Straße, die zurück zur
Brücke über den Teltowkanal führt, nach 50 Metern erreicht habe. Die „Schlafanzüge“,
wie einige die Nachtausrüstung mit Stirnlampe und Signalweste nennen, ruht noch
bei Henning in den Satteltaschen.
Vor uns scheint sich ein Läufer nur so dahin
zu schleppen, auch er schlurft mit jedem Schritt. Wir gehen an ihm vorbei, er
hängt sich aber dran und das schlurfen haben wir noch eine ganze Zeit im Ohr.
Die Strecke führt am Teltowkanal entlang, allerdings nun am Südufer. Immer
wieder noch Steelen mit den schwarz-weiß Bildern der größtenteils jungen
Menschen, die hier ihr Leben riskiert und verloren haben. Henning hält ab und
zu an, liest deren Geschichte und kommt dann hinterher geradelt. Allerdings ist
vom Ufer wenig zu sehen, da es dicht bewachsen ist. Rechts sind immer noch
Betonpfähle zu sehen, teilweise abgebrochen. Grenzzaun. Der Teltowkanal bildet
hier noch etwa 4 Kilometer die Grenze zwischen Teltow und Berlin-Zehlendorf.
Als wir ihn dann mit einer 90 Grad Rechtskurve verlassen, beginnt der Zick-Zack-Kurs
im Südosten West-Berlins. Alles klar? Die abgeknickte Straße führt durch eine
Wohnsiedlung. Auch hier ein Bild, wie schon so oft. Rechts auf der teltower
Seite Altbauten, links auf der Zehlendorfer Seite Neubauten der 90er hier im
beginnenden Speckgürtel der Hauptstadt. Schnell geht die Siedlung in freies
Land über, eine Kirschblütenallee beginnt. Uns kommen viele Spaziergänger mit
und ohne Hunde entgegen, zwischen Kirschbäumen – ein Geschenk Japans zur
Wiedervereinigung und entlang der Grenze damals angepflanzt – läuft der
Betonplattenweg. Der Blick in der untergehenden Sonne schweift über weite
Felder. Wann kommt der nächste VP? Ich bin im Moment schon ein wenig
erschrocken, wie schlecht es hier gefühlt vorwärts geht. In Biel hatte ich zwei
Jahre zuvor die 100 km in 10:11 h absolviert, nun hatte ich dafür über 12:30 h
gebraucht und fühle mich bereits viel müder. Aber da muss ich mich selbst
einbremsen. Biel startete zwar an schwülem Abend, in der Nacht wurde es jedoch
relativ kühl und warm wurde es erst in den letzten 2 Stunden. Der Tag bei
heißen und schwülen Temperaturen über 30 Grad hat doch mehr Körner gekostet,
als mir noch vor ein paar Stunden selbst klar war. Das Feld ist hier riesig
auseinandergezogen, fast jeder läuft hier für sich allein. Ohne Hennings
Unterhaltung würde es schwierig werden. Rechtsknick, immer noch ist der VP der
Polizei nicht in Sicht. Da wären es dann 109 km, meine Uhr zeigt schon 111! „Wenn
wir bei 161 nach meiner Uhr sind, müssen wir immer noch 3!“ erwähne ich mal so
am Rande. Dennoch hangele ich mich an den Anzeigen meiner Uhr entlang. Bald ist
es nur noch ein Marathon, das soll das nächste Etappenziel sein. Beim VP des
Polizeisportvereins angekommen wird es langsam dämmerig, wir legen unsere
Nachtausrüstung dann doch mal an. Ich hatte keine Lust gehabt, mir noch etwas
zu kaufen, also habe ich mein enges schwarzes Powerstripe-Shirt an und ziehe
das Ding aus dem Auto drüber. Das sollte mir am Ende eine unschöne
Scheuerstelle am Schlüsselbein einbringen, aber Geiz ist ja bekanntlich geil. Es
geht weiter. Rechts liegen Maisfelder mit gefühlten Kantenlängen von 3
Kilometern. So etwas Riesiges gibt es nur im Osten, wir am Niederrhein haben da
erheblich kleine Felder. Relikte von Bodenreform, Enteignung und
Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften. Dann beginnt der Wald und es
wird fast schlagartig dunkel. Stirnlampe an, Fahrradlampe an. Weiter geht es.
Ich laufe immer noch. Henning rechnet aus, dass wir nach 22 Stunden da wären,
aber ich bremse immer noch den Optimismus. Es kann viel passieren auf fast 50
Kilometern, vor allem werde ich immer langsamer. Henning streitet das ab und
betont immer wieder, wie sauber mein Laufsstil noch aussieht. Wir unterqueren
die B101 bei Marienfelde, hier lag das Erstaufnahmelager für diejenigen, denen
keine Stele an der Strecke gewidmet werden musste. Es waren einige Millionen,
die hier aufgenommen und zu „Wessis“ transformiert wuden. Wann kommt der
nächste VP? Ist da vorne Licht? Nein, das Licht will nicht näher kommen. Es ist
ein Läufer mit seiner Stirnlampe. Ich denke an allein laufende Frauen in diesem
schwarzen Nichts, das hätte vielleicht in die Ausschreibung gehört. Yvy und
Claudia war gemeinsam schon nicht wohl. „Wenn ich hier umkippe und rechts in
Gebüsch rolle, finden Sie mich erst in 12 Stunden“ sage ich zu Henning. Unwillkürlich
schauen wir, ob da nnicht wirklich einer liegt. Der Weg wird schlechter, der
Asphalt ist weg, Sandfahrspuren mit Wurzeln bilden nun das Geläuf. Dann kommen wieder
recht ordentliche Waldwege, die die Hoffnung schüren, das schlimmste sein
vorbei. Diese schlechten Wege kosten zusätzlich Tempo, das ist eigentlich das
Hauptproblem. Wann kommt endlich dieser nächste Verpflegungspunkt? Es sollten
doch nur 5,5 Kilometer sein! Man motiviert sich damit, sich an einem VP mal 3
Minuten hinsetzen zu dürfen und einen Bissen zu essen. Danach geht es aber
wieder von vorne los. Aber diese kleinen Aussichten und Abschnitte helfen
ungemein weiter. Man darf jetzt nicht denken „immmer noch 46 Kilometer“! Die
Strategie muss sein, sich von kleinen Zielen wie dem nächsten VP oder
bestimmten Kilometerzahlen heranzutasten. Der Weg gabelt sich, ist aber durch
die fluoriszierenden Pfeile am Boden bestens ausgeschildert. Dann sehen wir das
Licht des VP. Die haben hier so ein Ding tatsächlich im finstersten Busch
aufgebaut. Die Freude ist zunächst groß, dann aber sehe ich keine
Sitzgelegenheiten. Der kluge Läufer hätte jetzt stehend etwas gegessen und
getrunken und wäre schnell weiter. Zu der Spezies gehöre ich in diesem Moment
aber wohl nicht mehr. Es ist kurz vor elf, ich bin seit halb vier am Morgen auf
uns spätestens seit 6 Uhr laufend unterwegs. Da leidet die
Kleinhirndurchblutung offensichtlich, denn ich setze mich auf die angebotenen
Sixpacks Wasserflaschen. Das ist einmal unbequem und dann auch noch zu tief.
Meine Knie sind zu lange zu sehr durchgebeugt. Aber es geht wieder weiter in
die Dunkelheit. „Wie lange dauert dieser Scheiß-Wald noch?“ frage ich noch
verzweifelt die VP-Besatzung. „15 Kilometer!“ Vor dieser Antwort nehme ich dann
mal reißaus.
Weiter geht es um Schöneberg herum. Wir reden darüber, wie
sich wohl Yvy und Claudia in diesem dunklen Loch fühlen werden. Wo sie sind?
Keine Ahnung, denn Yvys Handy scheint leer zu sein, wie Henning meint. Claudia
hat ein mobiles Ladegerät dabei, genau wie ich, aber daran denkt man irgendwann
nicht mehr. Es kommt der gefürchtete umweg wegen eines fehlenden Tunnels unter
der Bahnanlage. Man schrieb hier von „schlechtem Kopfsteinpflaster“ und das ist
es wirklich. Die Straße ist mit den berüchtigten großen „Placken“ bestückt, den
schmalen Gehweg durch die 30er-Jahre Siedlung befestigt kleines
Kopfsteinpflaster. Das kann man ja noch relativ gut laufen, nur sind darin
überall Asphaltbuckel, wenn da mal ein Loch verschlossen wurde oder die Wurzeln
der zahlreichen Bäume haben das Zeugs hochgedrückt und in einladende
Stolperfallen verwandelt. Dazu die dämmrige Straßenbeleuchtung und die
Schlagschatten der belaubten Bäume, aber immerhin Häuser, Straßen und Abwechslung.
Was freue ich mich auf die City! Wir erreichen den Bahnübergang, der auch noch
gesperrt ist. Ein sitzender Streckenposten warnt uns vor den frei liegenden
Schienen. Wie lange noch Wald? „Locker 10 Kilometer!“ Sagt der Streckenposten
und ich befürchte, gleich wahnsinnig zu werden. Dieses westliche
Ostalgieviertel ist also nur ein Intermezzo. Irgendwann liegt der Ortsrand
wieder vor uns und es geht wieder in den Busch. Duster wie im Sack wird es
wieder. . Marathon, so ein Klacks. Der VP 20 ist erreicht. Hier stehen
Liegestühle, Henning ist so nettt zu mir und bringt mir ein schälchen lauwarme
Nudeln. Die tun ganz gut. Auf die angeboetene Bolognese verzichte ich dankend.
Wieder weiter, wir überquerend die B96,
hatten wir heute Morgen kurz vor der Gedenksteele Jirkowsky schon einmal. Nur
am anderen Ende von Berlin. Jetzt ist Ende mit Weg, es folgen zwei sandige
Fahrspuren, die sich ca. 20 cm. In die Grasnarbe eingefräst haben. Teilweise so
schmal, dass man die Füße nicht richtig aneinander vorbei bekommt. Henning auf
dem Rad flucht auch. Ein Mann mit Hund
kommt uns entgegen. „Wird das hier bald besser?“ frage ich. „Neh“ ist
die einsilbige Antwort. Das motiviert richtig. Es ist Mitternacht und wir
kämpfen uns Schritt für Schritt über die Wurzeln und Sandlöcher. Mein rechtes
Knie beginnt leicht zu schmerzen. Läuft sich raus, es muss sich rauslaufen! Es
ist aber kein stechender, abrupter Schmerz sondern eher ein dumpfer an der
Innenseite rechts. Egal, noch geht es ja. Der Wald lichtet sich und endlich
wird der Weg besser. Aber nur ganz selten gelingt noch ein Kilometer unter 8
Minuten. Wir sehen die Wohnsilos der Gropiusstadt, wieder das typische Beispiel
von Moderner Trabantenstadt der 60er Jahre und sozialem Brennpunkt der 70er und
80er. Christiane F. wohnte hier. Henning und ich unterhalten uns über den Film,
wir fanden ihn beide damals ziemlich schockierend. „We could be heroes – just for
one day“ sang David Bowie dazu und auf dem Wege dahin sind wir auch. Ich bin
überzeugt, dass das Zeug, was mein Körper gerade produziert, sich auch gut in
die Venen spritzen lassen würde. Denn auch ich fühle mich etwas surreal. Links
Wald, rechts Felder und am anderen Ende wummern die Bässe und drehen sich die
Lichter einer Kirmes, auf die wir zu laufen. Jetzt eine Runde Kettenkarussell.
Und Kandierte Apfel mit Zuckerwatte am VP. So scherzen wir uns dahin und ich
bewundere meinen Geist, der tatsächlich noch Humor hat. Dann ist die Kirmes
umlaufen, die Gestalten in meist jugendlichem Alter, die uns hier entgegen
kommen, sind alle lattenstramm. Wie mögen wir warmwestengewandete
Stirnlampenträger in mehr oder weniger vorzeigbarem Laufschritt auf sie wirken?
Endlich ist Groß-Ziethen erreicht, das bereits an Neukölln grenzt. Ein Stück
durch eine Wohnsiedlung, dann nochmals der Schrecken der Sandwege. Aber diesmal
wirklich nur für 200 Meter, dann wieder eine Wohnstraße, an deren Ende der VP
auftaucht. Die Leute hier machen wirklich Party, auf den Straßen ist dank der Kirmes
noch etwas los. Wieder nur kurz verweilen, weitermachen. So langsam beginne ich
u glauben, dass ich das hier tatsächlich ohne Gehpause durchlaufen kann. Und
gleich geht es Richtung Rudow endgültig in die Stadt. Noch knapp 35 Kilometer.
Nochmal kurz um die Blöcke der Gropiusstadt herum durch einen dunklen Weg, dann
sind wir auf der Großen Ziethener Chaussee Richtung Rudow. Ich laufe auf Radweg
oder Bürgersteig, Henning fährt neben mir. Ist auch ziemlich ausgestorben hier
so gegen ein Uhr nachts, aber es gibt etwas zu gucken. Ab und zu kommen Taxis,
die Nachtschwärmer nach Hause fahren. Wem es am Mittag besser geht – warten wir
ab. Mein Knie muckt ab und an, aber es schein sich nicht zu verschlimmern.
Gegenüber stehen zwei Polizeiautos und unterhalten sich durch die offenen
Fenster. Eines fährt weiter dreht wenig später am Verpflegungsstand, den wir
schon erreicht haben. Hier geht es psychologisch wirklich schneller als im
Tunnel des Waldes. Hier sitzen wieder Läufer. Ob die jetzt zu Staffeln oder
Einzelstartern gehören ist mir egal.Ein Polizist steigt aus und spricht mit den
Leuten am Verpflegungsstand. Henning bringt mir Getränke und Apfel und erzählt,
dass der Polizist gefragt habe, warum hier so viele vorschriftsmäßig
beleuchtete Fahrräder kämen, deren Lenker auch noch Warnwesten trügen! Hatte
der wohl noch nie gesehen, sonst fahren hier nämlich die meisten ohne Licht. Mit
diesem Humor im Rücken geht es weiter, schon bald erreichen wir wieder den
Teltowkanal. Ich laufe noch immer, obwohl ich langsam wirklich keine Lust mehr
habe. Auf meiner Uhr 135 Kilometer, offiziell wohl 2-3 weniger. Der Weg führt
hier schnurgerade etwa 5 Kilometer am Kanal entlang. Leider sehen wir nicht
viel, denn zwischen dem Gewässer und uns sind Büsche, auf der anderen Seite der
Lärmschutz der A 113, die man hier auf der Mauertrasse gebaut hat und die zum
niemals fertigen BER-Airport und nach Schönefeld führt. Eine Gedultsprobe.
Irgendwo weit vorne leuchten die Lichter einer Ampel, sehr viel später stellt
sich heraus dass die oben an der Brücke über den Kanal leuchteten, wir aber im
Dunkeln drunter her laufen. Man wird wieder verschluckt von dieser tiefen
Schwärze, nur durch den kleinen Tunnel unsrer Lampen durchbrochen. Weit vor und
hinter uns ist niemand zu sehen. „Die seit dem letzten Wechselpunkt haben wir
alle abgehängt“ freut sich Henning mit mir. Hinter einer Brücke liegt jemand
rechts an der Wand des Pfeilers im Gras. Ein Läufer. Wir schauen und leuchten
ihn damit an „Alles in Ordnung?““Boah, ich will nur schlafen“. Na denn, weiter.
Mit dem Schlaf wird er wenig Glück haben, denn so ziemlich jeder Läufer wird
ihn besorgt fragen, ob man helfen kann. Und das ist auch richtig so. Der VP 23
taucht auf, wunderschön mit Gartenfackeln illuminiert.
Wir wollen gerade die
Rot-Kreuz-Helfer per Bike zu dem Schläfer schicken, da taucht er schon auf. Er
konnte nicht einschlafen. Aber aus meiner Erfahrung vom Seilersee und Glörsee
weiß ich, dass das auch schon sehr gut tut. Henning muss die Batterien der
Radlampe wechseln, 4,5 Stunden Dauerbetrieb, das wars. Das ist schwierig, er
muss schrauben. Also laufe ich schon mal alleine los, denn ich will nicht
einrosten. Jetzt bin ich wirklich ganz allein in der Schwärze der Nacht. Was
tue ich hier? Ich bringe etwas ordentlich zu Ende, von dem ich seit langer Zeit
gesprochen hatte. Bald muss der Britzer Seitenkanal kommen, wo sie noch im
Februar 1989 Chris Gueffroy als letzten erschossen haben. Der ist fast mein
Jahrgang. Seine Mutter soll bei der Siegerehrung anwesend sein. Was ist so
etwas gegen die paar Meter laufen, die ich hier vor mir habe? Henning ist
wieder da und erneut von meiner Konsequenz beeindruckt. Er käme sehr schlecht
am VP wieder hoch, sagt er. Bei mir ist es der Blick auf die Uhr und die
gnadenlose innere Stimme, die mich nach vorne treibt. Das Tempo bestimmen die
Füße und Beine, die lassen sich jetzt nichts mehr vorschreiben. Aber ob sich
bewegt wird oder nicht, das bestimmt immer noch der da oben hinter der
Stirnlampe. Darüber bin ich ziemlich glücklich in diesem Moment. Dann dehnt
sich das Gewässer aus und der Seitenkanal zweigt ab. Endlich sind 5 Kilometer
Schwärze zu Ende. Wie oft haben wir das schon gedacht seit wir Claudia und Yvy
an der Turnhalle verlassen hatten? Es geht über den Kanal, da ist eine Treppe
hoch zu einer Brücke. Die Stufen gehe ich natürlich. Es ist jetzt ungefähr noch
ein Halbmarathon. Hey, eben war es noch ein ganzer und nun ein halber. Ein
Läufer und seine Radbegleiterin sind vor uns, er muss gehen, hat irgendein
Problem. Ich hatte es schnell wieder vergessen. Dann erwischt es mich aber
auch. Der Schmerz im Knie wird beim Anlaufen stärker. Ich gehe kurz, der
Schmerz ist weg. Wieder Laufen, der Schmerz ist wieder da. Da fälle ich eine
Entscheidung. Ich will mir hier nichts kaputt machen, definitiv. Ich habe 4
Stunden und 40 Minuten Zeit, es folgen noch 4 VP. Mache ich an jedem 5 Minuten
Pausen bleiben 4 Stunden 20 Minuten für 21 Kilometer. Das sollte entspannt
gehen. Warum also sich ein Problem einlaufen? Ich ärgere mich schon, denn ich
bin überzeugt, dass ich hätte durchlaufen können, wenn das Knie nicht gemuckt
hätte. Die Kraft fehlt nicht, die mentale Stärke sowieso nicht. Zwischen
Treptow und Neukölln marschiere ich also entlang des Kolonnenweges, der Zustand
hier ist giut, erführt aber immer in finsterer Nacht zwischen den beleuchteten
Straßen her. An den Hausfassaden kann man teilweise erkennen, wo Ost und wo
West war. Im Westen war das hier auch nicht die feinste Gegend. Hinter einer
Wohnblocksiedlung, einen VP hatten wir noch hinter uns gelassen, dann wieder
Wasser mit überfüllten Biergärten. Der Neuköllner Verbindungskanal. Wir müssen
aufpassen, nicht über abgestellte Räder zu fallen. Auf Parkbänken liegen
Nachtschwärmer sternhagelvoll und schlafen. Wird lustig für die Mädels,
flachsen wir. Aber wirklich Angst haben wir nicht, die Stimmung der Leute ist
nicht aggressiv. Dann ein Park, eine Brücke und wir erreichen die Schlesische
Straße, die uns zur Oberbaumbrücke führen wird. Hier ist alles voll. Warten auf
Taxis, nachtanken an der Tanke. Volle Tische auf den Gehsteigen der Kneipen und
wir wuseln uns durch. Übelriechende Männlein mit Stirnlampe und wahrscheinlich
weniger intelligentem Ausdruck im
Gesicht. An der Roten Fußgängerampel stehen wir im Pulk. „Watt machen die denn
hier?“ „Da hab ick ooch schon en Paar von jesehen!“ wird getuschelt. Aber egal,
hier macht es nichts, dass ich marschiere. Laufen geht eh nicht. Auch nicht auf
der Oberbaumbrücke, unter deren neugotischem Kreuzgang wir uns vom Partyvolk
über die Spree durchreichen lassen. Ein Nachwuchs-DJ übt an einem Keyboard,
irgendwelche Typen bieten irgendwelches Zeugs an. Das hilft mir jetzt auch nicht
mehr. Wir sind durch und gehen die Eastside-Gallery entlang. Dahinter
durchbrüche, Gastro-Boote. Alles ist voll, denn es ist sommerlich warm hier
zwischen zwei und drei in der Nacht. Ich überlege bereits, ob ich mich am
nächsten VP setzen soll, denn die ersten Schritte danach schmerzte mein Gelenk
dann immer. Ich setze mich dennoch, als wir da sind. Ich bedanke mich zunächst
immer bei allen Helfern, dass sie sich für ein paar Verrückte die Nacht um die
Ohren schlagen. Das gehört sich so und ich hoffe, ich habe es nirgendwo
vergessen. Dann geht es hier, zwischen Kunstbedeckten Mauerfragmenten und
lärmendem Taxiverkehr hinter und schnell wieder weiter. Mein Marschtempo liegt
so bei 9:30 Minuten pro Kilometer, mal 15 Sekunden mehr, wenn mehr Straßen überquert
werden müssen, in der Spitze aber auch mal 12 Sekunden weniger. Damit verliere
ich zu meinem zuletzt gelaufenen Tempo nur noch 45 Sekunden, das ist nicht viel
bei 20 oder 21 Kilometern Marsch statt Lauf. Vielleicht eine viertel Stunde auf
die Zielzeit, das ist es nicht Wert, sich in die Reizung weiter hinein zu
zwingen. Wir haben es fast geschafft, schlappe 11 Kilometer noch. Zunchst bin
ich heilfroh, als es durch Kreuzberg am Luisenstädtischen Kanal entlang geht.
Der wurde in den 20er Jahren zugeschüttet und in einen Park verwandelt, ich war
der festen Überzeugung, wir müssten wieder in so ein schwarzes Loch. Aber wir
dürfen an den Straßen bleiben. Ein farbiger kommt uns singend auf dem Rad entgegen.
Gegen die Einbahnstraße, mitten drauf, mit schwarzem unbeleuchtetem Rad und
schwarz angezogen. Das meinte die Polizei vorhin. Aber er sang ja, was dann ein
Argument wäre, mit offenem Fenster und ohne Radio Auto zu fahren. In einem Hauseingang
verabschieden sich 4 oder 5 Jugendliche. „Eh, schon wieder so’n Läufer!“ „Wie
biste schon jeloofen?“Ich antworte „So
154 Kilometer“ „Boah! Krasser Scheiß eh!“ Treffender als diese junge Dame hätte
es keine ausdrücken können. Werde den Spruch zum Event-Shirt 2016 vorschlagen. Aber
sie hat ja nicht unrecht. Was ich hier jetzt schon geleistet habe, ist schon
einiges. Und da darf ich auch stolz drauf sein, denn ich habe es sorgfältig
vorbereitet, physisch wie psychisch. Und ich hatte auf jede Situation die
passende Antwort. Einige Ecken weiter, in denen Henning und ich uns
vorzustellen versuchen, wie man hier mitten in der Stadt in einer Nacht wie
dieser eine Grenze errichten will, sind wir am Checkpoint Charlie und den
netten Chinesen am vorletzten VP.
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Kaffe am Checkpoint |
Es gibt Kaffee, den nehme ich gerne und
erzähle, wie ich hier 1986 noch die Frau gesehen habe, die tagaus tagein in
einem Käfig vor dem Grenzübergang stand und
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1986 am Checkpoint Charlie
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Staatsratsvorsitzenden Honecker
bat, Ihre zwangsadoptierten Kinder herauszugeben. Auch denke ich daran, dass
hier im Oktober 1961 fast der dritte Weltkrieg ausgebrochen wäre, als sich die
Panzer der USA und der Sowjetunion schussbereit gegenüber standen. Ein
25-jähriger Soldat verliert die Nerven und wir säßen jetzt nicht hier und
trinken Kaffee. Weiter geht es, in der Wilhelmstraße fällt mir am
Finanzministerium, dem ehemaligen Reichsluftfahrtministeriums der Film „Des
Teufels General ein“, der auf der unglücklichen Rolle des Fliegerasses Ernst
Udet in diesem Gebäude basiert. Udet hatte sich erschossen. Carl Zuckmeyer hat
dies 1946 in seinem Theaterstück verarbeitet, welches dann mit Curd Jürgens
verfilmt wurde. Was mir hier noch alles einfällt! Henning findet es es
spannend, zumindest tut er noch so. Hier ist es genau wie ich es erwartet
hatte. Die Kilometer fliegen dahin, denn hier ist überall etwas zu sehen. Das
Brandenburger Tor am Pariser Platz.
Zwei Mal hatte ich es beim Berlin Marathon
schon durchlaufen. „Gleich an der Ecke mal sehen, wie weit es noch ist.
Vielleicht laufe ich dann eben durch.“ Sage ich noch und bin an der Ecke. Es
ist mir zu weit. Meinem Knie will ich keinen unnötigen Schritt mehr zumuten.
Ein Foto, dann weiter Richtung britischer Botschaft. Wir ernten bewundernde
Blicke von den hier reichlich patroullierenden Polizisten, dann geht es die
Scheidemannstraße zum Reichstag. Anke kommt in Begleitung vorbeigelaufen, die
hatte ich bei Kilometer 45 oder so überholt. Aber Anke ist eine sehr gute Ultra-Läuferin,
sie hätte mich gerne mitgenommen, aber ich sage, dass ich nur noch gehen kann und wünsche alles Gute.
Reichstag, Kanzleramt, Kronprinzenbrücke. Das Regierungsviertel ist
menschenleer. Dann Richtung Bahnhof, Anke und Begleiter sind noch in Sicht,
bevor es am Humboldhafen entlang über den Invalidenfriedhof zum letzten VP
geht. Eine tolle Sache, erschöpfte Läufer am Rande des Zusammenbruchs über
einen Friedhof laufen zu lassen. So kaputt bin ich Gott sei Dank nicht. Am VP
erwartet uns eine nette Dame vor dem Tresen, ich frage wie weit es noch genau
ist. 4,75 Kilometer sind es laut Tafel am VP. Noch 48 Minuten, dann stünde noch
die 22 bei den Stunden. Das wird mir zu eng. Um eine 9er Pace zu erreichen
müsste ich laufen. Mein Knie ist noch stabil, am Ende ist es egal ob wir 22:59
oder 23:10 hereinkommen. Für die blöde Gürtelschnalle kann ich auf allen vieren
in dieser Zeit ankommen. Also kann ich auch meine 4 Minuten Pause machen und
die Dame unterhalten. Tun wir dann auch. Mit einem netten Dankeschön geht es
auf die letzte Etappe. Würde ich bei der TorTour de Ruhr jetzt noch 75 weitere
Kilometer schaffen? Ja. Mit einer Stunde Schlafpause dann würde es gehen, ich
hätte locker 13 Stunden dafür Zeit. Man hat das eine nicht ganz geschafft und
denkt schon an den nächsten Wahnsinn. Aber so ist halt der Plan. Zwei Läufer
überholen uns noch im Endspurt kurz vor der Bernauer Straße. Das sieht aus wie
4:30er Pace. Wahrscheinlich war es eher 7er Pace, aber bei meinem Marschtempo
kann man sich vertun. Es tut ein wenig weh, nicht mitlaufen zu können, aber die
Vernunft siegt. Dann liegt endlich die Bernauer Straße vor uns, höchstens 2,5
Kilometer noch einschließlich Sportplatzrunde. Es wird noch nicht hell, obwohl
es auf 5 Uhr zu geht. Ein Läufer kommt von vorne langsam näher, dann setzt er
sich auf eine Fensterbank eines Ladenlokals. „Können wir helfen?“ Er fragt nach
Cola, wir geben ihm unsere eiserne Reserve, eine 0,33 l Flasche aus den Gepäcktaschen.
Die brauchen wir nicht mehr. Jetzt plane ich schon den Einlauf. Henning soll am
Eingang des Stadiongeländes schon mal vor fahren und auspacken. So machen wir
es dann auch, als unvermittelt die dreibeinigen „Giraffen“, die Flutlichtmasten
des einstigen Dynamo Berlin-Stadions auftauchten. Beim DDR-Abo-Meister von
Stasi-Mielkes Gnaden haben sie alle gespielt: Barcelona, Juventus, der HSV,
Werder Bremen. Die verloren hier sogar mal 3:0, drehten dann aber das Rückspiel
mit 5:0 in Bremen. Ich bin an Hennings rad am Eingang zum kleinen
Leichtatlethikstadion angekommen. Signalweste aus, Singlet wieder drüber, die
blaue „DDR“-Trainingsjacke an. So laufe ich ein. In der letzten Kurve dann
reise ich die Retro-Jacke auf, ziehe sie aus und das goldene DLV-Singlet mit
der Aufschrift „Deutschland“ kommt zum Vorschein.
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Die letzten Meter |
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Finisher! |
Eine Symbolik, wo das neue
Deutschland unter der verstaubten DDR zum Vorschein kommt. Ich hoffe, das
versteht keiner falsch. Wenn doch, kann er es ja hier nachlesen. Euphorisch
schwenke ich die Jacke über meinem Kopf, zum Schreien bin ich zu platt. Hier bin
ich nochmal getrabt, wenn auch unter Schmerzen. Es ist vollbracht! Hundert
Meilen und ein paar Meter sicherlich mehr sind gelaufen. 23 Stunden und 9
Minuten steht auf dem Kassenbon mit allen Zwischenzeiten, den ich in die Hand
gedrückt bekomme. Auch das Finisher-Shirt erhalte ich hier. Zunächst bedanke
ich mich bei Henning. Ich will nicht sagen, dass ich es ohne ihn nicht
geschafft hätte, aber es wäre brutal schwerer geworden! Er holt und zwei
Erdinger Alkoholfrei, die wir auf der Bierzeltbank trinken. Bier vor dem
Frühstück, sonst nicht so meine Art. Dann die bange Frage nach Claudia und Yvy.
Es ist bei mir nun auch später geworden, würde sie die 24 Stunden schaffen?
Irgendjemand schreibt Henning, sie seien um 4:40 Uhr am Checkpoint Charlie
gewesen. Dann wäre das zu schaffen! Es wird nun schnell hell, es kommen immer wieder
uns bekannte Läufer herein. Auch welche, die wir vor uns wähnten. Dann sagt der
Moderator an, es wären noch zwei Minuten bis Sechs Uhr, da noch niemand auf dem
Stadiongelände sei, könne er die Kiste mit den Buckles schließen. Wir sehen
Claudia nicht, also wird das nix mehr. Etwas traurig bin ich darüber schon,
jetzt hoffe ich nur, dass sie weit genug weg ist und nicht in drei Minuten hier
erscheinen möge. Denn das wäre dann wirklich ärgerlich!
Sie kommen wenig später, gegen 6:20 Uhr. Ich nehme sie am
Eingang zur Tartanbahn in Empfang. Claudia geht, auf der Bahn aber läuft sie
wieder. Sie wird schneller, gibt wieder richtig Gas wie das ihre Art ist und
erreicht in 24:22 h das Ziel! Ich bin stolz auf meine Frau, denn auch sie hat
sich mit viel marschieren aufgrund von Magenproblemen durchgebissen. Und das in
einer sehr ordentlichen Zeit. Sie war ohnehin nicht so auf den Buckle fixiert
wie ich und sie ist nicht sichtbar enttäuscht!
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Claudia im Zielspurt |
Was für ein Ding! Wir haben es tatsächlich gerockt, sogar
weitgehend nach Plan. Mein Magen bekommt nichts rein, das angebotene Frühstück
will ich später lieber im Hotel versuchen. Wolfgang sehe ich beim Duschen
nochmal, sieht fies aus, der alte Wegbegleiter. Aber ich kann mich alleine aus-
und anziehen. Auch ein Erfolg. Andere haben da mehr Probleme. Lars, der Däne
von der Glienicker Brücke duscht auch gerade mit. Er hat das Buckle noch
erreicht, war eine halbe Stunde nach uns drin. Aber der ist in wenigen Tagen vergessen. Meine
Füße sehen fast tadellos aus, eine leichte Blase unter der Hornhaut am vorderen
Ballen, sonst nix.
Was war das jetzt für ein Gefühl? Das kann man in der Müdigkeit
so schnell jetzt nicht fassen, was man da geleistet hat. Es waren in jedem Falle
unvergessliche Eindrücke, geschichtsträchtige Orte und Augenblicke und
bewegende sportliche und menschliche Gesten und Regungen bei Helfern und
Mitläufern. Habe ich mich selbst besser kennengelernt? Nein, ich war so, wie
ich es erwartet hatte. Es lief ähnlich, wie ich es erwartet hatte. Und ich
sehe nichts, was ich hätte besser machen
können. Kann es eine schönere Bestätigung geben?
Und auch meiner Claudia hatte ich dies zugetraut. Dass es
nicht noch mehr wurde, lag am Wetter während des Tages. Die Hitze und die
Schwüle haben uns die entscheidenden Körner gekostet. Aber auch sie hat sich
toll durchgebissen
Ich kann den Lauf jedem Ultra nur empfehlen, und sei es als
Staffel. Freiheit des Läufers an der Stelle einer tödlichen Grenze…..das
sollten wir nicht vergessen.
Was sagte die Berliner Göre doch: „Boah….krasser Scheiß, eh!“
Während ich da saß kam jemand auf mich zu und forderte mich auf "Zieh den Lappen da aus!" Ich ging eh duschen, aber da muss ich widersprechen. Wenn er meinen Zieleinlauf nicht gesehen hat, mag es ausgesehen haben wie ein schlechter Scherz. Aber: Erstens ist das eine Sportjacke, keine Trainingsjacke der NVA oder der Grenztruppen. Darin steckten Sportler, die ich auch respektiere. Denn gedopt wurde im Westen auch. Ich gebe aber zu, dass ich mir dann im Ziel etwas anderes hätte überziehen können. Aber daran dachte ich ebenso wenig nach 100 Meilen wie der LAufkollege über den agressiven Ton in seinem Spruch. Ich ging duschen. Vielleicht liest er das hier und macht sich auch nochmal Gedanken. Ich habe sie mir gemacht.